"Evangelikale haben Erfolg in Lateinamerika"

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Warum protestantische, fundamentalistische Sekten regen Zulauf haben, was das mit dem Millennium zu tun hat und welche politischen Ziele diese Sekten in Lateinamerika verfolgen, analysiert Juliana Ströbele-Gregor, eine Konsulentin für Entwicklungspolitik.

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Warum protestantische, fundamentalistische Sekten regen Zulauf haben, was das mit dem Millennium zu tun hat und welche politischen Ziele diese Sekten in Lateinamerika verfolgen, analysiert Juliana Ströbele-Gregor, eine Konsulentin für Entwicklungspolitik.

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dieFurche: Immer wieder werden die USA hinter der Verbreitung protestantischer Sekten in Lateinamerika vermutet. Was ist da dran?

Juliana Ströbele-Gregor: Der Großteil derer, die heute missionieren, hat seinen Ausgangspunkt in den USA oder Kanada. Bei manchen spielt es eine ganz unmittelbare Rolle, wie bei der "Gospel Outreach Church" des Diktators Efrain Rios Montt in Guatemala. Der Putschist von 1982 war selbst Prediger der Kirche, die die Politik gegen den demokratischen Widerstand materiell, personell und ideologisch förderte. Im Kalten Krieg war derlei Unterstützung in den USA diskursfähig. Ein Beraterkreis des Präsidenten Ronald Reagan hatte 1980 im Papier von Santa Fe der protestantischen Missionierung eine zentrale Rolle im Kampf gegen den "fortschreitenden Kommunismus" und dessen "Tarnorganisation", die Theologie der Befreiung, zugedacht.

Die Evangelikalen ließen sich aber nie direkt zu einem ausführenden Organ einer Regierung machen. Absprachen hat es wohl gegeben, aber das läßt sich nicht verallgemeinern, auch wenn die Law-and-Order-Ideologie paßt.

dieFurche: Welche politischen Ziele verfolgen denn diese Gruppen? Die Law-and-Order-Gesinnung ist doch nicht zufällig.

Ströbele-Gregor: Zufällig nicht, aber allgemein. Es herrscht die Vorstellung, daß alle Regierungen, ob gute oder schlechte, von Gott so gewollt sind, sonst gäbe es sie nicht. Evangelikale und Fundamentalisten - und hier kann ich verallgemeinern - richten sich gegen eine Politisierung des Individuums, gegen Bewußtmachen von gesellschaftlicher Unterdrückung und von Ursachen geschlechtlicher oder ethnischer Diskriminierung. Gegen die herrschende politische Ordnung ist nicht zu rebellieren. Wenn die Zustände schlimm sind, ist das durch Überzeugungsarbeit und Gebet zu verändern.

dieFurche: Haben die Geldflüsse und Aktivitäten mit dem Ende des Kalten Krieges abgenommen?

Ströbele-Gregor: Die Aktivitäten haben keinesfalls abgenommen. Sie nehmen zu. Es gab sicher Schwerpunkte für direkte Geldströme, wie während der blutigen Auseinandersetzungen etwa in El Salvador oder in Guatemala. In der Regel fließen heute keine Gelder, sondern die Gläubigen selbst werden ununterbrochen zur Kasse gebeten.

dieFurche: Von welchen Ländern und Dimensionen sprechen wir da?

Ströbele-Gregor: Exakte Daten gibt es nicht. Die Gruppen selber übertreiben, um zu zeigen, wie erfolgreich sie sind. Und die katholische Kirche hat auch ein Interesse zu zeigen, wie erfolgreich die anderen sind, um wiederum Geld für bessere Arbeit zu bekommen. In Bolivien sind mindestens 20 Prozent der Bevölkerung evangelikalen Fundamentalisten zuzuordnen. Andere Länder mit hohem Anteil sind Chile mit über 30 Prozent, Mexiko, El Salvador und Guatemala. Eine Studie über Brasilien wies schon Anfang der neunziger Jahre allein für die Pfingstkirchen 15 Prozent aus. Durchschnittlich nähern sich diese Gruppen also der 30-Prozent-Marke.

dieFurche: Welche Bedingungen förderten den starken Zulauf zum Protestantismus?

Ströbele-Gregor: Die Ursachen für die massenhafte Konversion gerade in den Städten wie etwa in Bolivien sind vielfältig: sozioökonomische Gründe, Ausgrenzung, Perspektivlosigkeit. Dazu kommt, daß die Menschen einem Modernisierungsprozeß unterworfen sind, in dem die positiven Seiten der Moderne nicht stattfinden: soziale Gerechtigkeit, rechtliche Gleichheit und Emanzipation.

In Kombination mit dem starken Rassismus in ganz Lateinamerika sind die Heilsversprechungen attraktiv. Die als "dreckige Indios" oder "Schwarze" Diskriminierten können sich als "die übrigen, die erwählten" verstehen, die, so die Interpretation der Apokalypse durch evangelikale Fundamentalisten, im 1000jährigen Reich mit Jesus nach seiner zweiten Wiederkunft in einem Paradies zusammenleben. Damit wird ihr Leiden kompensiert. Im Alltag drückt sich dies in einem deutlich stärkeren Selbstbewußtsein und Initiative aus.

dieFurche: Wie verändert eine fundamentalistische Protestantengruppe den konkreten Alltag einer Gemeinde?

Ströbele-Gregor: Sie schafft ja eine Gemeinde. Man müßte fragen: Was verändert sie in der Person? Wo Schläge und Vergewaltigungen zum Frauen-Alltag gehören, stößt die rigide Moral, die das sozial ächtet, auf offene Ohren.

Häufig hat eine Frau vier, fünf Kinder von vier, fünf Männern, die sich bei Schwangerschaft aus dem Staub machen. Die Norm der monogamen Ehe mit nur so vielen Kindern, wie man erziehen, kleiden und ernähren kann, gibt da eine Antwort. Der soziale Druck auf Frauen, aber vor allem auf Männer bewirkt durchaus Verhaltensänderungen. Adventisten bieten zudem Aufklärung zur Familienplanung an. Als sehr attraktiv erweist sich auch das Verbot von Coca und Alkohol, das mit der Festkultur und religiösen Riten in den Anden bricht. Die Feste sind sehr kostspielig, verschaffen aber Ansehen und soziale Kontakte. Wenn Männer und Frauen zum Bruch mit dieser Kultur bereit sind, müssen Leidensdruck oder Erwartung sehr groß sein.

dieFurche: Wie missionieren diese Gruppen überhaupt?

Ströbele-Gregor: Ein Unterschied zur katholischen Kirche sind bestimmt die Missionierungs-Kreuzzüge. Ein Predigerteam zieht da kampagnenartig übers Land und vollzieht Massentaufen in Stadien. Hinzu kommen Hausbesuche. Die Adventisten haben dafür sogar ein eigenes Handbuch, das selbst die richtige Kleidung nahelegt.

In Brasilien spielen Fernsehpredigten eine große Rolle. Und die sind immer auf spirituelle Erneuerung ausgerichtet. Wo es einen katholischen Sender gibt, ist der häufig mehr an sozialen Problemen und Bildung orientiert. Aber bei der katholischen Kirche in ihrer Gesamtheit spielt soziale Missionierungsarbeit eine geringe Rolle. Wir haben da ein falsches Bild, weil wir denken, die Theologie der Befreiung wäre weit verbreitet in Lateinamerika. Aber etwa nur fünf Prozent der Priester gehören dazu.

dieFurche: Macht Ihnen, unter dem Strich betrachtet, der Vormarsch der, wie Sie es nennen, protestantischen Fundamentalisten Sorgen?

Ströbele-Gregor: Die emanzipationshemmende Ideologie, die sich damit verbindet, widerstrebt mir zutiefst. Die Konversion ist eine Option, wo man wenige Optionen hat. Ich sehe das nicht als "Gehirnwäsche" oder "Verführung". Wo Konversion soziale, politische Abstinenz, völlige Welt-Abgewandtheit bedeutet, macht sie mir schon angst. Diese Haltung ist besonders dann stark, wenn die gesellschaftlichen Probleme groß sind und die Menschen wenige Alternativen sehen.

dieFurche: Wenn es Ihnen angst macht: Wie ist psychologisch oder kulturell gewaltsamen Seelenfängern beizukommen?

Ströbele-Gregor: Man kann das nur dadurch bekämpfen, daß die Gesellschaften soziale Ausgrenzung, Rechtlosigkeit und Benachteiligung abschaffen. In dem Moment, da es eine demokratischere Gesellschaft auch hinsichtlich der Ressourcen gibt, verändert sich die Situation.

dieFurche: Warum suchen diese religiösen Gruppen ausgerechnet die Marginalisierten?

Ströbele-Gregor: Der protestantische Fundamentalismus erleichtert in gewisser Weise die Anpassung an eine Modernisierung der Gesellschaften nach westlich-kapitalistischen Maximen. Er bietet Handlungsorientierung, Werte und Normen fürs Überleben in diesem sozial und kulturell rücksichtslosen Prozeß. Auch aufstrebende Kleinbürger und Mittelschichten fühlen sich von der Leitidee der "erfolgreichen, weißen, protestantischen US-Amerikaner" angezogen. In Guatemala sprechen die "Neo-Evangelikalen" ganz gezielt solche Schichten an.

dieFurche: Wie erklären Sie sich, daß in europäischen Entwicklungsorganisationen wenig Bewußtsein für die ganze Problematik herrscht?

Ströbele-Gregor: Ganz wenig Problembewußtsein! Der Zentralrat der Evangelischen Kirchen hat sogar eine Zeit lang Adventisten unterstützt, wohl weil die so gut abrechnen. Den Leuten in der Solidaritätsarbeit fehlt es an Kenntnissen über Fundamentalisten und die Ursachen der Konversion. Das ist eine große Nachlässigkeit! Mit groben Verallgemeinerungen und Verteufelungen ist es aber nicht getan.

Das Gespräch führten Gloria Huaman-Rodriguez und Roland Schönbauer.

Zur Person Vom Theater zur Dritten Welt Die Ethnologin Juliana Ströbele-Gregor arbeitet heute als entwicklungspolitische Konsulentin des deutschen Ministeriums für Zusammenarbeit (BMZ).

Die langjährige wissenschaftliche Mitarbeiterin der Freien Universität Berlin forscht und publiziert vor allem zu Guatemala und Bolivien. Noch vor ihrem Altamerikanistik-Studium wirkte Ströbele als Schauspielerin und Lehrerin.

Auf Einladung des Lateinamerika-Instituts referierte sie kürzlich in Wien auf der Tagung "Religionen in Lateinamerika".

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