Evangelische Freude an der Tora

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Am 25. Mai verstarb in Berlin der evangelische Theologe Friedrich-Wilhelm Marquardt. Er war einer profiliertesten protestantischen Vertreter der "Theologie nach Auschwitz".

Auf einem Schul-weg" nannte Friedrich-Wilhelm Marquardt sein letztes Buch. In der Erneuerung des Verhältnisses von Christen zu Juden und Judentum betrachtete sich der große Lehrer immer auch als Schüler. Er wollte vom Judentum lernen und die christliche Theologie darüber neu buchstabieren - auf diesem Schulweg ging Marquardt bis zuletzt.

Als Zehnjähriger sah er auf seinem damaligen Schulweg im brandenburgischen Eberswalde die ausgebrannte Synagoge und die verkohlten hebräischen Texte. Die "Kristallnacht" des 9. November 1938 bezeichnete er später als ein Grunddatum seines Lebens.

Die NS-Ideologie erlebt er unmittelbar in seiner Familie. Die Auseinandersetzung damit lässt ihn nie wieder los. Ein Aufsatzthema im Dezember 1944 öffnet ihm die Augen: "Wie gedenken Sie Ihr Leben zu führen bis zu Ihrem Heldentod fürs Vaterland?"

16-jährig wird Marquardt noch am 2. April 1945 auf Hitler vereidigt. Die Erlebnisse der letzten Kriegswochen führen ihn zu dem Entschluss, evangelische Theologie zu studieren. Er beginnt sein Studium in Marburg bei Rudolf Bultmann. In der Existenzialphilosophie Heideggers und dem Entmythologisierungsprogramm Bultmanns bekommt der Student jedoch keine befriedigenden Antworten auf seine Fragen. Er wechselt das theologische Lager und geht nach Basel. Hier findet er in Karl Barth den Lehrer, dessen Theologie vom Wort Gottes bestimmend für Marquardts Denken wird. Im Unterschied zu anderen Schülern Barths interessiert er sich aber immer für die gesellschaftspolitischen Bedingungen dieser Theologie, für den Zusammenhang von Bibel und Zeitung. Seine umstrittene Habilitationsschrift aus den 70er Jahren trägt den Titel "Theologie und Sozialismus - das Beispiel Karl Barths".

Als Studentenpfarrer wird Marquardt 1957 von Helmut Gollwitzer nach Berlin geholt. An der Freien Universität Berlin wird er später dessen Nachfolger als Professor für Evangelische Theologie. Bereits 1959 begleitet Marquardt die erste nach Israel eingeladene Gruppe deutscher Studenten. Die Begegnungen auf dieser Reise mit jungen Israelis und Überlebenden der Schoa führen ihn zu neuen theologischen Fragestellungen über das christlich-jüdische Verhältnis. Die Geographie des Landes Israel wird eine wichtige Komponente seiner systematischen Theologie. Die Tora ist nicht mehr die Last des Gesetzes - wie von lutherischer Theologie oft interpretiert, sondern die Quelle evangelischer Freude. Auch in der Frage der Christologie geht er unkonventionelle Wege: Der auferstandene Christus bleibt bei seinem Volk Israel gegenwärtig, das jüdische Nein zu Jesus als Messias muss als eine radikale Anfrage an die christliche Praxis verstanden werden.

Die siebenbändige Dogmatik Marquardts ist wahrscheinlich die einzige christliche Lehre, in der sich neben einem Bibelstellenregister eine Liste der rabbinischen Belegstellen aus dem Talmud findet.

Der Theologe und Prediger Marquardt setzte sich unermüdlich auf kirchlicher, universitärer und gesellschaftspolitischer Ebene für eine Erneuerung des christlich-jüdischen Verhältnisses ein. 1968 erhielt er zusammen mit Friedrich Heer die erste Buber-Rosenzweig-Medaille. Gerne und regelmäßig kam Marquardt zu Vorträgen nach Österreich. Zuletzt sprach in Österreich im März 2001 beim Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit zum Thema "Juden und Christen: Vorwärts und nicht vergessen!"

Marquardts Stimme wird besonders in Zeiten fehlen, in denen das christlich-jüdische Verhältnis durch den Nahostkonflikt großen Belastungen ausgesetzt ist. Er war einer, für den die Hoffnung eine wichtige theologische Kategorie blieb. Nicht umsonst ist der letzte Band seiner Dogmatik eine theologische Utopie mit dem Titel "Eia, wärn wir da".

Der Autor, evangelischer Theologe und Schüler von Friedrich-Wilhelm Marquart, ist Leiter der Evangelischen Akademie Wien.

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