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Evangelische Kirchenmusik

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Anläßlich der kürzlich stattgefundenen Evangelischen Kirchenmusikalischen Woche in Wien geben wir nachfolgender Darstellung Raum. „Die Furche“

Ungezählten Menschen ist Johann Sebastian Bachs „Matthäus-Passion“ seit ihrem Entstehen zu einem Quell seelischer Kraft und Erbauung geworden. In ihren Chören, Arien, Rezitativen und Chorälen ist sie geradezu eine Summa musicae evangelicae und zeugt damit für künstlerische Kräfte, die dieser Kirchenmusik innewohnen.

Es kann aufschlußreich sein, einmal Wesen und Bedeutung dieser jüngeren Schwester der geistlichen, kirchlichen Musik Europas wenigstens an einzelnen Tatsachen näher zu betrachten. Wo es solche Spitzen gibt wie jenes Bachsche Werk, da muß es auch noch anderes geben, dessen zu gedenken lohnende Aufgabe ist. Frei von allen theologischen Auseinandersetzungen handelt es sich dabei um rein künstlerische Probleme und Tatsachen, die nicht nur im Rahmen der evangelischen Kirche ihre Wirkungen zeitigten, sondern darüber hinaus auch katholische Kreise zu erfassen vermochten. Daß hier seit dem Bestehen evangelischer Musik ein stetes Geben und Nehmen besteht, ist dem Einsichtigen aus der Geschichte klar bewußt und bedarf keiner eigenen Erwähnung.

Der stärkste Grundpfeiler, den die evan-gelisdie Kirchenmusik besitzt, ist das Kirchenlied. Was seit dem Klugschen Gesangbuch von 1529 bis heute fromme Begeisterung zustande gebracht hat, das ist eine so reiche Fülle, daß man sie in Worten kaum schildern kann. Verschiedene Zeiten, verschiedene Persönlichkeiten haben daran gebaut, haben Lied um Lied erstehen lassen, oft sehr mannigfach in Ausdruck und Form; immer aber herrscht der eine Wille: zu erbauen, zu trösten, zu erfreuen, sich im Kampf des Lebens zu behaupten. Denn eines leuchtet aus den schönsten der Weisen, für gewöhnlich sind es solche der ältesten Zeiten, unverkennbar entgegen: mannhaftes Stehen, streitbar, aber ruhig; Beharren liegt darin, gelegentlich trutzig und wehrhaft wie jenes „Ein feste Burg ist unser Gott“, aber auch Freude hat ihre Töne gefunden, etwa in: „Nun freut euch, liebe Christeng'mein.“

Begreiflich: diese Haltung stammt in ihren Grundzügen aus den Geburtsjahren der Reformation, die aber tragen als Zeichen auf ihrer Stirn den Subjektivismus. Der Einzelmensch, das Individuum hatte sich gefunden, hatte, oft unter überschwenglichen Lobreden, gepaart mit schweren Kämpfen, seine „Renaissance“ erlebt. Wen möchte es wundern, wenn da im reichen geistigen Leben jener Zeit nicht auch das gesungene Lied zu ganz besonderer Aufgabe berufen wurde. Luther erkannte und benützte es für seine Zwecke. Daß dabei auch vor diesen Zeiten liegendes Melodiengut geistlichen wie weltlichen Charakters benützt wurde, wen kann das überraschen? War doch damals ein allseitiges Austausdien geistiger Werte, trotz aller Fehden, oder vielleicht gerade deshalb, so daß es oft mancher Mühe bedarf, die Schicksale einer Liedmelodie klar vor Augen zu sehen. Der Pietismus hat vieles verweichlicht und die galante Zeit war anderen Ausdrucksformen hold als jene ersten Jahre der Reformationszeit, aber derartigen „Umbildungsgefahren“ ist jedes Menschenwerk ausgesetzt, wenn es Jahrhunderte überdauert, und immer noch sind, sofern Leben und Entwicklung einen gesunden Kern beinhalten, dann jene Männer gekommen, die dem Ganzen wieder den rechten Geist zurückgegeben haben. Das tat auch J. S. Bach seiner evangelischen Kirchenmusik, der er selbst nicht nur die ehrwürdigen Choralmelodien mit unvergänglich vielfältigen Harmonien geschmückt hat, sondern auch eigene Lieder schenkte. Wenn sie auch vielleicht nicht sosehr sich dem offiziellen Kirchengebrauch eingegliedert haben, so sind sie doch meisterliche Beiträge einer tiefen „Familienreligiosität“. Das muß als einer der größten Verdienste des deutschen evangelischen Kirchenliedes gebucht werden, daß es auf geistlichem Gebiet die Muttersprache zu mächtigem Klingen gebracht hat und so weit ins Volk hineinwirkte. Daß dieses Musizieren in deutscher Sprache aber nicht nur dem persönlichen Gebrauch des Laien diente und dient, sondern offiziellen, kirchlichen Charakter im evangelischen Gottesdienst bekam, das war die wesentliche Erweiterung des Geltungsbereiches, mit der das deutsche geistliche Lied in diesen Zeiten ausgestattet wurde. Die katholische Kirche, die ebenfalls auf einen reichen Schatz von Liedern hinweisen kann, ist hier ganz andere Wege gegangen und erst die jüngsten Jahre nähern sich in der „Betsingmesse“ einer ebenfalls liturgisch betonten Bewertung des Kirchenliedes in der Landessprache.

Mit der liturgischen Stellung des Kirchenliedes ist aber seine Bedeutung in der Entwicklung der evangelischen geistlichen Musik nicht abgetan. Seine Kraft wirkt weiter, und zwar so stark, daß sie überhaupt, zum Teil im Zusammenwirken mit anderen Elementen, neue Formen sdiafft.

Die Betonung des Subjektiven gegenüber dem Objektiven der alten Kirche bringt es mit sich, daß die neuen Formen des 17. Jahrhunderts, der Monodie, viel leichter und auch umfassender in der evangelischen Kirchenmusik Eingang finden als in der katholischen. Die Kantate, sowohl für Solostimmen wie auch für Chor, mit und ohne Instrumentalbegleitung, wird zu der meist verwendeten musikalischen Form. Es ist ja bekannt, daß die Komponisten ganze Kantatenjahrgänge, Sammlungen von Kantatenkompositionen für alle Sonntage und Feste des Jahres, erstellten, damit aber eine solche Fülle von Gebrauchsmusik produzierten, daß es heute manchmal ein gutes Stück Arbeit darstellt,die Spreu vom Weizen zu sondern. War ein Großteil dieser Werke auch vollkommen frei, ohne jede Bezugnahme auf bestehende Melodien komponiert, so ist dagegen der Typus der Choralkantate jene geradezu tiefsinnige Form, die der Melodie, aber auch den zugrunde liegenden Choralstrophen musikalische Ausdeutung verleiht. Es sei in diesem Zusammenhang nur an die Bachschen Choralkantaten erinnert, um begreiflich zu machen, worum es geht. Die einzelnen Strophen des Textes geben die Stimmungsgrundlage für die Teile der Komposition. Vorläufer der Programmusik sind sie, Worterklärung in Tönen, die sich, wenn ein großer Meister sie vollzieht, zu eindringlicher Exegese steigern kann.

Das ist ja auch die große Tat jenes anderen Zweiges von Musik, den die Welt der evangelischen Kirche verdankt: der Orgelmusik. Die subtile Art der Choralvorspiele und -phantasie, die Entwicklung von Präludium und Fuge, die Liedharmonisation schlechthin, nicht zuletzt die Entwicklung des Orgelbaues selbst haben durch sie entscheidende Impulse erfahren. Die Gestaltung des evangelischen Gottesdienstes, Anordnung und Gliederung seiner Teile, Gemeindegesang und Predigt vor allem, haben seit dem 17. Jahrhundert der Orgel eine große und wesentliche, weil liturgische Rolle anvertraut. Die Entfaltung aller ihrer Kompositionsformen konnte gerade hier zu besonderen Leistungen führen, weil wiederum den individuellen Kräften breitester Spielraum gewährt wurde. Die Orgelimprovisation hatte in Vor- und Zwischenspielen zu den Gemeindechorälen, in Stücken vor und nach dem Gottesdienst genügend Zeit, um ihre Stärke und Begabung glänzen zu lassen. Das hat der Organist der evangelischen Kirche seinem Kollegen im katholischen Gottesdienst voraus, er hat Zeit, zu improvisieren oder eine fertige Komposition längerer Dauer zu spielen. So sind die Werke von Samuel Scheidt (1607 bis 1654), Johann Pachelbel (1653 bis 1706), Jan Adam Reinken (1623 bis 1722), Dietrich Buxtehude (1637 bis 1707), Joh. Seb. Bach (1683 bis 1750), um nur einige wenige Komponisten zu nennen, entstanden, unvergängliche Zeugen hoher Kunst, deren Kraft bis in unsere Zeit zu neuen Werken gleicher Art angespornt hat: Joh. Brahms mit seinen Choralvorspielen, Max Reger mit seinen gigantischen Werken, vor allem den Choralphantasien.

Dieser geistigen Welt verdanken wir aber auch die Wiederbeachtung und in der Folge Wiedererweckung des alten barocken und vorbarocken Orgelklanges. Die deutsche Orgelbewegung um 1920 hat gleich der von Albert Schweitzer, dem berühmten Badi-Interpreten, und Charles Widor geführten französisch-elsässischen Orgelrenaissance große Verdienste um die stilreine Wiedergabe dieser Musik. Wenn hier auch protestantischer Norden und katholischer Süden nicht nur infolge ihres unterschiedlichen Charakters verschiedene Wege gehen, so muß doch dankbar anerkannt werden, daß damit allen am musikalischen Leben Beteiligten eine Fülle neuer Erkenntnisse beschert wurde, für die man nur aufrichtig dankbar sein kann.

Vergessen wir darüber aber auch die Instrumentalmusik an sich nicht, die, zur Zeit der Renaissance noch zufällig und mit großer Freizügigkeit zum vokalen Werk angewendet, seit der Stilwandlung zur Monodie mit immer größerer Bestimmtheit die Werkgestaltung zu beeinflussen begann. Die Streicher- und Holzbläsergruppen, die Trompeten und Posaunen, sie alle wurden in teils sehr wechselvoller Gegenüberstellung oder in solistischer Charakterisierung verwendet.

Das neuerweckte Klangbewußtsein rang ihnen in fortschreitender Benützungsvirtuosität immer neue Kombinationen ab. Das macht sich auch die evangelische Kirchenmusik zunutze; in Heinrich Schütz besaß sie einen ihrer genialsten Meister vor J. S. Bach, der dem vokalen wie dem instrumentalen Element mit gleicher Meisterschaft gegenüberstand. Das deutsche Wort wollte gleich anderen Sprachen seine Ausdeutung auch durch die Instrumente haben. Die verschiedenen Arien mit Soloinstrumenten, man denke nur, um Bekanntestes zu nennen, an die betreffenden Stücke der Matthäus-Passion von Bach, bilden soldierart eine Literatur für sich. Eine Fülle verschiedenartigster Reichtümer liegt angehäuft vor dem Betrachter, läßt ihn die Vielfalt erkennen, mit der im evangelischen Gottesdienst, vor allem des 17. und 18. Jahrhunderts, musiziert wurde.

Diese klanglichen Verwirklichungen haben ihre ausdruckstechnischen, vor allem ihre dramatischen Untergründe, wie sie besonders in den Passionen und Oratorien zum Ausdruck kommen. Die Leidensgeschichte des Herrn, der Mittelpunkt des Kirchenjahres in der Karwoche, wurde dem Volk durch die Anwendung der deutschen Sprache leichter nähergebracht als in der katholischen Kirche. Die dramatische Darstellung, schon seit dem Mittelalter geübt, mußte zu jenen bewegten musikalischen Szenen führen, die in Abwechslung von Chor, Rezitativ, Arie und Kirchenlied alle anwesenden Gläubigen zu gemeinsamer Feier zusammenschloß. Wieviel die Entwicklung des deutschen dramatischen Stils diesen Stücken der evangelischen Kirchenmusik, vor allem dem Rezitativ verdankt, müßte noch einmal untersucht werden; hier bestehen starke Berührungsflächen von geistlicher und weltlidier Musik.

Das alles aber wäre nicht möglich gewesen ohne die Erziehungstat der evangelischen Kirchenmusik: den Lateinschulen des 16. und den ihnen folgenden Kantoreien des 17. Jahrhunderts, von denen leider nur wenige bestehen blieben, so die Thomasschule in Leipzig und das Kreuzkantorat zu Dresden. In ihnen wurde, ähnlich wie in den Stiften

Österreichs und Süddeutschlands, die Jugend zur Musik erzogen und in täglidier, praktischer Übung zu jenem Hochstand allgemeiner Musikbildung geführt, der für die Zeit von 1550 bis etwa 1780 so kennzeichnend ist. Das deutsche Kirchenlied, der lateinische Choral, soweit er vereinfacht in die evangelische Liturgie herübergenommen worden war, die Mehrstimmigkeit in Motette und Kantate, kurz alle Zweige vokaler und instrumentaler Betätigung fanden hier ihre nicht nur rein künstlerische, sondern auch erzieherische Verlebendigung.

Es kann allerdings nicht geleugnet werden, daß eigentlich schon von der Zeit Luthers an die liturgische Bedeutung der Gottesdienste durch subjektiv künstlerische Freiheiten weitgehend umgestaltet, vereinfacht, ja geradezu vernachlässigt wurde. Daraus sind alle jene gegenwärtigen Bestrebungen zu erklären, die darauf abzielen, den verschiedenen evangelischen Landeskirchen wieder liturgische Ordnungsprinzipien zu geben. Da mag wohl noch manches zu fügen sein, denn dort, wo jahrhundertelang persönliche Freiheiten geherrscht haben, dort ist nicht leicht eine gesetzliche Regelung einzuführen. Jede Liturgie ist Gesetz, weil sie von allen an ihr Beteiligten die Unterordnung in eine für eine Allgemeinheit festgesetzte Form verlangt und somit in manchem das Aufgeben eigener Wünsche fordert; aber wo die Einsicht in höhere Notwendigkeit vorhanden ist, da findet sich auch der Weg.

Die evangelische Kirchenmusik darf mit ihren Werken auf dem Gebiet des deutschen Kirchenliedes, der Chorkomposition aller Gattungen und der Orgelmusik auf Leistungen hinweisen, die zu den größten der gesamten Musikentwicklung zählen. Daß sie über den ihnen bestimmten Kreis hin ausgewirkt haben in die Weite der gesamten menschlichen Bezirke, ist der Beweis für ihre rein künstlerischen Qualitäten. Auch losgelöst vom Gottesdienst haben sie stets jenes Wort wahrgemacht, das Beethoven einst über sein größtes kirchenmusikalisches Werk setzte: „Von Herzen — möge es wieder zu Herzen gehen!“

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