Exit? - Exil? - Exodus!

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Überlegungen zu Carl Amerys "Global Exit. Die Kirchen und der Totale Markt", dem - was die Analyse betrifft - wichtigsten religiösen Buch des Jahres. Die darin propagierte neue politische Theologie sollte die Kirchen und ihre Leitungen herausfordern.

Schon 1983 wurde er in einem Buch mit anderen "zornigen alten Männern der Kirche" porträtiert. Knapp 20 Jahre später und zum 80. Geburtstag veröffentlichte Carl Amery sein neuestes Buch "Global Exit. Die Kirchen und der Totale Markt": Der Zorn von dazumal ist anno 2002 nicht milder geworden, der bayerische Schriftsteller und katholische Kulturkritiker analysiert die Weltgesellschaft und die Aufgabe der Kirchen darin. Was die Analyse betrifft, so kann "Global Exit" als wichtigstes religiöses Buch des Jahres gelten - und als durch und durch politische Denkschrift, die Kirchen und ihre Leitungen herausfordert.

"Es ist vorauszusehen, dass die Lebenswelt, wie wir sie kennen, im Laufe des anhebenden Jahrtausends zusammenbrechen und unbewohnbar werden wird." Und: "Es ist vorauszusehen, dass die Kirchen der Christenheit sehr bald, vielleicht im Laufe dieses Jahrhunderts, in völlige Bedeutungslosigkeit absinken werden." Diese Thesen klingen weniger nach Zorn als nach Kulturpessimismus pur. Dagegen setzt Amery aber: "Es soll gezeigt werden, dass diese beiden Aussichten, wenn zusammengeführt und ineinander gespiegelt, eine gewaltige Pflicht enthüllen - und eine gewaltige Chance gebären."

Religion des Totalen Marktes

Das große - religiöse - Thema Carl Amerys ist die derzeitige "Reichsreligion", die er mit dem Christentum als Reichsreligion (seit Konstantin 312 n.Chr.) vergleicht. Amery nennt diese Religion der Gegenwart "Totaler Markt". Er geht dabei aus von Walter Benjamins Aufsatzfragment "Kapitalismus als Religion" von 1921. Der Kapitalismus (nach Benjamin), der "Totale Markt" (nach Amery) weist alle Elemente klassischer Religion und ihrer Erscheinungen auf. Beispielsweise ortet Amery in der heutigen Weltgesellschaft den "Fundamentalismus" der Ökonomie. Solche Versatzstücke aus Religionsgeschichte und religiösem Leben findet er in vielen Bereichen der Welt und der gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse vor.

Als Apotheose beschreibt Amery das Titelblatt der großen französischen Enzyklopädie Diderots, die eine Pyramide zeigt, auf deren Spitze die Theologie als Königin aller Wissenschaften thront. Auch wenn er konzediert, dass es sich bei dieser Darstellung schon um eine "Verneigung vor dem religiösen Establishment" des Ancien régime gehandelt haben dürfte, so würde nach Amery vorn auf der Enzyklopädie heute der "feist und finstere Mammon, mit weit gespannten Lederflügeln" thronen und darunter die "Mägde des Herrn", zu denen er den Produktionsfaktor Wissenschaft, das käufliche Wissen, die "verwahrloste" Kernenergie und Ähnliches zählt.

Die Entwicklungen - darauf will Carl Amery hinaus - bedrohen die Biosphäre massiv, und der Zwang des Marktes verschärft das Szenario noch und noch.

Solche Kulturkritik ist nicht außergewöhnlich. Abgesehen von der Betrachtungsweise des Totalen Marktes mittels Kriterien einer Religion sind ähnliche Stimmen aus der Ökologiebewegung schon lange zu hören, und jeder anständige Globalisierungsgegner hat ähnliche Argumente wie Amery längst auf Lager.

Was "Global Exit" und seine Thesen so bedenkenswert wie originell machen, ist Amerys Unterfangen, den Zustand der Christenheit auf dem Hintergrund obigen Befunds abzubilden: Amery nennt den Bischof von Amarillo, Texas, (er heißt, wenn den Schreiber dieser Zeilen die Erinnerung nicht trügt, Leroy Matthiesen; er ist heute emeritiert), der in den achtziger Jahren in einem Hirtenbrief die Arbeiter der örtlichen Atomwaffenfabrik aufforderte, ihre Mitarbeit in dem unchristlichen Unternehmen aufzukündigen. Ein einziger Arbeiter, ein Mexikaner, so Amery, sei diesem Aufruf gefolgt.

Auch eine Fabrik für Atomsprengköpfe zu bauen, beruht laut Amery auf den Forderungen des Totalen Marktes. Die Situation der Christen ist aber durch die texanische Episode genau beschrieben: Nur ein einziger Arbeiter folgte dem Aufruf des Bischofs und nahm den eigenen Teil der Verantwortung wahr.

Wir Lokführer nach Auschwitz

Wieviele Bischöfe schreiben heute solche Briefe, und wieviele Christen nehmen ihre Verantwortung konkret ernst und wissen, dass sie sich nicht auf die Zwänge des Ökonomischen und der Verhältnisse ausreden dürfen? Solche Fragen des Lesers provoziert Amery immer wieder.

Dem ernüchternden Beispiel setzt Amery Weiteres nach: Vor allem der Siegeszug von Sekten und Freikirchen, nicht zuletzt in Lateinamerika, ist für ihn ein weiterer Beweis für den Totalen Markt. In diesen Gruppen fänden die Menschen "zu einem geschlossenen Dasein, einer menschenwarmen Existenz im Container". Die Konsequenzen des Mittuns würden so nicht bedacht. Amery diagnostiziert, "dass wir uns nur graduell von dem Lokomotivführer nach Auschwitz unterscheiden: Wir halten uns an unsere Dienstanweisungen, und uns geht es nichts an, welche Todesfrachten wir transportieren".

Amery schielt auch auf die Versuchungen in der katholischen Kirche, zu einer "kleinen Herde zurückzukehren": Binnenkirchliche "Sekten" und Kleingruppen - explizit werden Opus Dei, Neokatechumenat, Mariengemeinschaften, Engelwerk u.a. genannt - würden den "paranoiden Trost des Hermetismus" anbieten und für Oberhirten eine "treue und problemfreie Kernschar" darstellen. Solcher Versuchung nachzugeben, so Amery, wäre aber "todesgefährlich - für die Kirchen und für die Welt".

Diese Kulturkritik beschränkt Amery keineswegs bloß auf die katholische unter den Kirchen.

Zu fragen ist bei all diesen Befunden, welche Perspektiven zu verfolgen sind, und was die Christen dabei leisten sollten. Amery greift auf zwei biblische Erfahrungen zurück - die des "Exils: das Volk das an den Wassern des Zweistromlandes sitzt, das seine Harfen in die Weiden gehängt hat und weint", und die des Exodus - des ursprünglichen Auszugs.

Amery plädiert eindeutig für den Exodus in der Tradition des Volkes Israel, das den Aufbruch aus einem herrschenden System in Ägypten gewagt hat, weil es erkannte, dass es von diesem System jederzeit vernichtet werden konnte. Es sind nur wenige Schritte vom biblischen Bild bis zu den Überlegungen, dass sich Christen so auch aus der Umklammerung des Totalen Marktes befreien sollten.

Amery stellt auch Überlegungen an, wie die Kirchen und die Christen aufbrechen können, um "die Möglichkeit einer für Menschen bewohnbaren, möglichst sogar in Würde bewohnbaren Zukunft zu erhalten". Er entdeckt - "trotz der gegenwärtigen Misere der Kirchen" - in diesen Institutionen "stattliche materielle und immaterielle Guthaben", um sich dem Totalen Markt entgegenzustellen. Und er propagiert unter anderem den langen Atem, den die Kirchen als Ressourcen nach wie vor anbieten können.

Wider frömmelnden Zeitgeist

Vielleicht ist Amery dann bei seinen konkreten Vorschlägen (Beispiel: Solarzellen auf Kirchendächern zur Propagierung erneuerbarer Energie) nicht ganz der große Wurf gelungen. In der Analyse und der Ausleuchtung der Hintergründe erweisen sich des Kulturkritikers Ansätze aber als zukunftsweisend. Jedenfalls ist das, was Amery andenkt, nichts anderes als eine neue politische Theologie; den Kirchen stünde es wohl an, diese zu rezipieren.

Es stimmt optimistisch, dass ein zorniger alter Christ mit solcher Kulturdiagnose zum Denken und Handeln anregt. Pessimistischer Nachsatz: Nicht viele Kirchenführer werden Amery lesen - steht zu befürchten - und sich befruchten lassen wider den Zeitgeist frömmelnder, in sich gekehrter Gläubigkeit, die den Weltauftrag der Christen verleugnet.

GLOBAL EXIT. Die Kirchen und der Totale Markt. Von Carl Amery, Luchterhand Literaturverlag, München 2002. 240 Seiten, geb., e 18,50

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