10 Jahre Papst Franziskus
DISKURS"Fratelli tutti": Die neue Enzyklika von Papst Franziskus
„Fratelli tutti“ I: In der neuen Enzyklika stellt Papst Franziskus die Geschwisterlichkeit in den Fokus der Katholischen Soziallehre – für eine „offene Welt“ und gegen „geschlossene populistische Gruppen“.
„Fratelli tutti“ I: In der neuen Enzyklika stellt Papst Franziskus die Geschwisterlichkeit in den Fokus der Katholischen Soziallehre – für eine „offene Welt“ und gegen „geschlossene populistische Gruppen“.
Die Corona-Pandemie hat verschärft, was sich besonders seit der Finanzkrise 2007-2008 zunehmend verstärkte: Anstelle von Hoffnungen auf eine vereinte Welt haben Nationalismen, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit die Welt zu dominieren begonnen. Gegen diese „Schatten einer abgeschotteten Welt“ setzt Papst Franziskus in seiner Enzyklika Fratelli tutti auf eine universale Geschwisterlichkeit, die im Anschluss an Franz von Assisi „alle politischen und räumlichen Grenzen übersteigt“.
Nicht das Coronavirus stellt die größte Bedrohung dar, sondern das sich immer wieder wandelnde Virus des Rassismus einerseits und das noch hartnäckigere Virus eines „radikalen Individualismus“ andererseits. Diese beiden Viren stützen sich gegenseitig und stehen im Zentrum der Kritik des Papstes, wenn er sich mit gesellschaftlichen Fehlentwicklungen wie „Populismus und Liberalismus“ auseinandersetzt, die beide eine Verachtung der Schwachen befördern. Die Option für die Armen bleibt ein zentrales Anliegen des Papstes.
Plädoyer für eine offene Welt
Seine Betonung der Geschwisterlichkeit ist nicht neu und lässt sich bis in die Anfänge der katholischen Soziallehre zurückverfolgen. Schon Rerum novarum (1891) forderte die „brüderliche Liebe“ und erkannte sie als Stärke der ersten Christen. Diese frühen Hinweise auf die Geschwisterlichkeit blieben aber noch zu sehr einer paternalistischen und eng am Staat ausgerichteten Soziallehre verhaftet.
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Erst im 20. Jahrhundert entstand vor allem in Frankreich im Anschluss an Henri Bergson eine geschwisterliche Richtung, die vor allem durch Jacques Maritain zunehmenden Einfluss in der katholischen Kirche gewann und sowohl das Zweite Vatikanische Konzil als auch die Gründerväter der EU inspirierte. Besonders stark prägte Maritain auch den lateinamerikanischen Katholizismus und es verwundert daher nicht, dass in Fratelli tutti Bergsons Plädoyer für eine offene Gesellschaft deutlich mitklingt. Das dritte Kapitel der Enzyklika fordert dazu auf, eine „offene Welt“ zu schaffen, und gegen „geschlossene populistische Gruppen“ setzt der Papst auf ein „lebendiges, dynamisches Volk“, das „offen für neue Synthesen bleibt, indem es in sich das aufnimmt, was verschieden ist“ (Nr. 160).
Als er 2013 zuerst auf die italienische „Flüchtlingsinsel“ Lampedusa reiste, stellte Franziskus seiner Kritik an einer „Globalisie- rung der Gleichgültigkeit“ positiv die Geschwisterlichkeit gegenüber. In der Predigt auf Lampedusa verwies er auf das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter, um das gleichgültige Wegschauen als Verstoß gegen die Geschwisterlichkeit zu brandmarken. Diese Predigt gehört zum Kern der neuen Enzyklika, wie sich das vor allem im zweiten Kapitel („Ein Fremder auf dem Weg“) zeigt, in dem das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter dazu dient, über unseren Umgang mit Fremden und Flüchtenden genauer und vertieft nachzudenken.
Gegen ein in Österreich nicht unbekanntes enges Verständnis von Nächstenliebe zeigt Papst Franziskus mit dem Gleichnis, dass es für die Liebe unerheblich ist, „ob der verletzte Bruder von hier oder von dort kommt“ (Nr. 62). Das Gleichnis steht gegen eine „Gesellschaft der Exklusion“ (67) und betont, dass angesichts der Not anderer nicht die Gleichgültigkeit, sondern sogar Empörung Ausdruck menschlicher Würde ist. Das biblische Gleichnis versteht Franziskus zu Recht als eine „starke Provokation“, um unserer „Liebesfähigkeit eine universale Dimension“ zu geben.
Universale Geschwisterlichkeit
So sehr der Papst aber für eine universale Offenheit eintritt, so wenig darf seine Position mit einem liberalen Kosmopolitismus verwechselt werden. Sein Modell einer universalen Geschwisterlichkeit ist nicht die „Kugel“, die eine monotone Homogenisierung aller Kulturen, Religionen und lokalen Traditionen erzwingen würde, sondern das „Polyeder“, also ein von vielen Ecken begrenzter Körper. Es geht ihm zwar um die Einheit, weil das Ganze wichtiger ist als die Teile, aber nicht auf Kosten der Vielfalt und der Unterschiede: „Das Universale darf nicht zu einer homogenen, einheitlichen und standardisierten Domäne einer einzigen vorherrschenden Kulturform werden, die irgendwann die Farben des Polyeders verliert und dann abstoßend wirkt. Das ist die Versuchung, von der die uralte Geschichte des Turmbaus zu Babel handelt.“ (144) Das Modell des Polyeders setzt sich sowohl vom abstrakten Universalismus als auch vom abgeschotteten Nationalismus ab. Es berührt sich mit Bergsons „offenem Patriotismus“ und jenen aktuellen Konzepten eines Glokalismus, die Globalität und Lokalität miteinander verbinden.
Das Polyeder ist auch innerhalb der Gesellschaften modellhaft, weil es nicht auf ein homogenisiertes rundes Ganzes setzt, son- dern auf eine Einheit in Vielfalt. Der Weg zur Polyederbildung ist eine „Kultur der Begegnung“ und der Dialog. Auch das sind Kernanliegen der Enzyklika. Der Papst setzt selbst ein mutiges Beispiel in diese Richtung, wenn er neben der Predigt in Lampedusa vor allem sein 2019 mit dem Kairoer Großimam Ahmad Al-Tayyeb verfasstes „Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt“ mehrmals anspricht und damit ein Beispiel für einen christlich-islamischen Dialog gibt, der die Friedenspotenziale der Religionen sucht und sich gemeinsam den zur Gewalt antreibenden „Verformungen“ religiöser Überzeugungen entgegenstellt.
Über den Islam hinaus nennt er mit Martin Luther King, Desmond Tutu, Mahatma Gandhi und Charles de Foucauld weitere Vorbilder jener universalen Geschwisterlichkeit, zu der die Weltreligionen berufen sind. Hintergrund Lateinamerika Mit Sorgfalt müssen die Aussagen des Papstes zu Themen wie Populismus und Volk gelesen werden, weil sie den Hintergrund lateinamerikanischer Befreiungstheologie voraussetzen. Er kennt den Missbrauch des Volkes, wenn er davor warnt, aus „Popularitätsgewinn […] die niedrigsten und egoistischen Neigungen einiger Gruppierungen der Gesellschaft“ zu schüren. Den Begriff des Volkes will er aber wegen dieses Missbrauchs nicht preisgeben. Seine Theologie des Volkes fordert mit der Betonung der „Volksbewegungen“, dass den Armen und Marginalisierten im politischen Dialog eine Stimme zukommt. Gewaltsame Demonstrationen aber – ob von links oder rechts – lehnt er entschieden ab.
Viele weitere Themen finden sich in dieser Enzyklika, die eine sozialethische Summe des Pontifikates von Papst Franziskus bietet und die Soziallehre auf die Höhe der Zeit bringt. Zu nennen sind insbesondere friedensethische Themen wie die klare Absage an jede weitere Anwendung der Theorie des gerechten Krieges, die Abschaffung der Atomwaffen, das entschiedene Nein zur Todesstrafe sowie die Betonung der Vergebung, ohne die Gewalttaten der Vergangenheit einfach zu vergessen. Das Zitat, das der Enzyklika den Titel gibt, stammt aus der Ermahnung des Franz von Assisi, die Nachfolge Jesu nicht auf das Berichten und Predigen zu beschränken. Auch Papst Franziskus drängt darauf, den „neuen Traum der Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft … nicht auf Worte“ (6) zu beschränken.
Der Autor ist Professor für Christl. Gesellschaftslehre an der Kath.Theol. Fakultät der Uni Innsbruck.
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