Frau Blairs New-Age-Kristalle

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Was man von Cherie Blair und Shirley MacLaine über den "Megatrend Spiritualität" lernen kann. Der Sozialethiker Kurt Remele klinkt sich in die Diskussion über dieses Phänomen ein (vgl. furche 38/03, zuletzt: Ulrich Körtner in furche 46/03).

In den vergangenen Jahrzehnten wurden die Menschen zunehmend aus bisherigen gesellschaftlichen Einbindungen und Einbettungen freigesetzt. Die verbindlichen, weitgehend unhinterfragten Vorgaben von Schicht, Familie und Religionsgemeinschaft sind einer Biografiegestaltung gewichen, die stärker durch Wahl und Eigenverantwortung, Selbstbezug und Innenorientierung geprägt ist.

Esoterische Ausstattung

Cherie Blair ist erfolgreiche Anwältin, Frau des britischen Premierministers und praktizierende Katholikin. Gelegentlich trägt Frau Blair einen New-Age-Anhänger aus Kristallen um den Hals, der sie vor negativen Kräften und elektromagnetischen Wellen schützen soll: eine esoterische Ausstattungsvariante, die einer englischen Qualitätszeitung vor einigen Jahren immerhin einen Bericht mit Foto wert war.

Frau Blair liegt im Trend: Auch die eigene religiöse Orientierung, die eigene Spiritualität unterliegt unter Individualisierungsbedingungen der Selbstgestaltung und der Innenorientierung. Dabei geht es aber weniger um den Wechsel von einer Religion zu einer anderen, sondern um den Aufbau eines individuellen Glaubenssystems. Auch wenn in historisch christlich geprägten Ländern das Christentum in der Regel das Fundament des eigenen Glaubensgebäudes bleibt, so dient die christliche Religion ebenso wie andere religiöse Traditionen vorrangig als Steinbruch und Baumaterial, aus denen sich der einzelne Mensch das Haus seiner bunten, für ihn selbst stimmigen "Do-it-yourself"-Religion zimmert.

Mehr als ein Drittel der Europäer gehört bereits zu dieser Gruppe der "Religionskomponisten" oder "Spiritualitätsbastlerinnen", darunter auch viele Kirchenmitglieder. Mehr als ein Viertel aller evangelischen Kirchenmitglieder im ehemaligen Westdeutschland und in Österreich gibt zu, Erfahrungen mit esoterischen Praktiken wie Astrologie, Pendeln und Wünschelrutengehen gemacht zu haben, und in katholisch geprägten Gesellschaften wie Österreich, Frankreich, Italien, Portugal und Spanien ist der Reinkarnationsglaube sogar häufiger anzutreffen als in anderen europäischen Ländern.

Der individualisierungsbedingte Wandel im religiösen Bereich lässt sich begrifflich als Verschiebung von Religion hin zu Spiritualität beschreiben. Unter Religion versteht man danach die Praxis, die sich in einer von Dogmen, Überlieferungen und Regeln geprägten Kirche vollzieht, Spiritualität dagegen wird als Ausdruck einer individuellen, inneren und erfahrungsorientierten Befindlichkeit begriffen.

Meditieren und joggen

In der Unübersichtlichkeit zeitgenössischer Spiritualität verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen Heil und Heilung, Meditation und Magie, Entspannungsverfahren und Esoterik, Gesundheit und Wellness, Bewegungsübungen und Psychotherapie, Religion und Psychologie. Religion unterliegt unter Individualisierungsbedingungen einer Tendenz zur "Psychologisierung religiöser Erfahrung". Dies äußert sich etwa in der Suche nach Kontakt mit dem eigenen Inneren, dem Interesse an Mystik, der Entdeckung der Meditation als Möglichkeit zur Selbsterfahrung und -heilung. Die Grenzen zwischen bislang weitgehend getrennten kulturellen Sektoren wie kirchliche Seelsorge hier, psychologische Beratung dort, werden durchlässig. Die Zuständigkeiten verschwimmen, die Funktionen gehen fließend ineinander über. So versuchen einerseits kirchliche Bildungseinrichtungen, den Bedürfnissen ihrer Klientel durch ein breites Angebot (mitunter fragwürdiger) therapeutischer Lebenshilfe und religiös verbrämter Selbsterfahrung gerecht zu werden. Andererseits sehen so genannte "transpersonale" und "spirituelle Psychotherapeuten" ihre Aufgabe darin, das spirituelle Vakuum von Menschen mittels New-Age-Therapien zu füllen und sie bei ihrer Suche nach der Bezogenheit auf etwas Größeres, Höheres oder Tieferes anzuleiten.

Psychoboom und Esoterikkonjunktur setzen sich in der Gesundheitswelle fort und verschmelzen ineinander. Dabei wurde der Krankheitsbegriff ausgeweitet auf Gefühle des Unwohlseins oder das Empfinden von Defiziten in den Bereichen Fitness, Wellness und Lebenszufriedenheit. Der katholische Theologe Hans-Joachim Höhn stellt diesbezüglich mit Ironie fest: "Die Gewissheit, dass man o.k. ist, vermittelt der gebräunte, joggende, in Form gebrachte Körper."

Nichts Herbeigeredetes

Gerade am Joggen lässt sich aufzeigen, dass sich die Suche der Menschen nach spirituellen Erfahrungen und seelischer Gesundheit einerseits, nach Fitness und körperlicher Gesundheit andererseits teilweise überlagert: Menschen joggen, um ihren Körper gesund zu erhalten. Oder sie tun es primär deshalb, um das "Runner's High" zu erleben, einen rauschähnlichen euphorischen Zustand, von dem einige Langstreckenläufer schwärmen. Ziele wie seelische Bereicherung und Erleuchtung, Gesundheitsvorsorge und Überwindung von Übergewicht, Beseitigung von seelischen Tiefs und Heilung von sozialen Ängsten verschmelzen.

Individualisierungsprozesse sind auch im religiösen Bereich kein von Trendforschern herbeigeredetes Phänomen, sondern Realität. Individualisierung bedingt aber einen erhöhten Selbstbezug, einen "Exodus ins Ego" (H.-W. Weis), eine Reise ins Innere. "Jeder und jede von uns besitzen im Inneren eine mächtige Kraft, die uns lehrt, wie wir lieben und uns ändern können. Die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Vermutlich ist die längste Reise die Reise ins Innere", behauptet die Schauspielerin und Esoterik-Bestsellerautorin Shirley MacLaine.

Dialog, nicht Anbiederung

Christliche Theologie wird darauf hinweisen, dass die Reise ins Innere nicht zur Weltflucht führen und der biblische Gott nicht auf eine innere Kraft oder eine kosmische Energie reduziert werden darf. Allerdings sollten auch bestimmte anthropomorphe Gottesbilder, nach denen der christliche Gott allzu sehr dem Weihnachtsmann oder einem orientalischen Potentaten, einem greisen katholischen Prälaten oder einem strengen evangelischen Pastor gleicht, theologisch problematisiert werden. Christliche Theologie wird auch einwenden, dass manche Angebote des Spiritualitätsmarktes zu altem Aberglauben und zu neuen Abhängigkeiten führen. Sie wird sich den neureligiösen Suchbewegungen nicht anbiedern, ihnen aber grundsätzlich mit theologischer Neugierde und mit "wertschätzender Achtung" (Paul M. Zulehner) begegnen. Pauschale Diskreditierungen wie jene der "Gottvergessenheit" dienen der anstrengenden Unterscheidung der Geister nicht. Und eine kämpferische Rhetorik, die Vermittlungen zwischen menschlicher Sinnsuche und göttlicher Offenbarung von vornherein zurückweist, verhindert den verständnisvollen Dialog zwischen Menschen verschiedener Religionen und Spiritualitäten.

Der Autor ist Professor für Ethik und Gesellschaftslehre an der Kath.-Theol. Fakultät in Graz.

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