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Freiheit - wozu?

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MENSCH UND WELT IN DER ENTSCHEIDUNG. Von Leo Gabriel. Verlag Herder, Wien. 136 Seiten. Preis 42 S.

Die Weisheit des Konfuzius, der erklärte, man müsse die Ordnung des Staates mit der Ordnung der Gedanken beginnen, gilt noch immer. Daß der wissenschaftliche Sozialismus, den Marx und Engels begründeten, einen der größten Versuche darstellt, die gesellschaftliche Wirklichkeit von einem einzigen Angelpunkt her zu erfassen, in ein geistigkonzipiertes Koordinatensystem zu bringen, steht für die politische Geschichtsschreibung fest. Und niemand kann übersehen, daß die großen theoretischen Auseinandersetzungen sowohl im Sozialismus der demokratischen Welt ak auch innerhalb des kommunistischen Blocks nur deswegen mit solcher Energie und Konsequenz geführt werden, weil sich alle streitenden Parteien innerhalb eben dieses Koordinatensystems bewegen, weil es für sie ein Oben und Unten und daher auch ein „Rechts“ und „Links“ gibt. Die

Grenze wird nur dort erreicht, wo die zum Tabu gemachten philosophischen Grundlagen des ganzen Systems berührt werden. Man macht entweder vor ihnen Halt und setzt sie keiner weiteren kritischen Prüfung, keiner „Frage“ (im Sinne Voegelins) mehr au. Oder man gibt sie preis, mit ihnen aber dann auch das gesamte System.

Das große Dilemma aller derer, die aus christlicher Grundauffassung heraus philosophieren wollen, liegt nun demgegenüber in folgendem: Die Botschaft des Evangeliums, die an sie geknüpfte Lehre und Verkündigung der Kirche ist zwar für den einzelnen unmittelbare Praxis, kann aber für das gesellschaftliche Leben nur normativen Charakter tragen. Wer zum Handeln übergehen, wer aus den Erkenntnissen in die gesellschaftliche Praxis hinein schlußfolgern will, muß sich nach einem „System“ umsehen. Dieses naturgegeben zeitgebundene System wurde und wird dann mit dem Evangelium in einen mehr oder minder gewaltsamen Sinnzusammenhang gebracht und von einer Basis aus zu legitimieren gesucht, die dafür ihrem Wesen nach ungeeignet ist. Nach der Bibel kann man nicht regieren, nach päpstlichen Enzykliken kann man nicht im Heute und Hier politisieren. (Österreich hat einen solchen methodischen Irrtum in jüngerer Vergangenheit erlebt.) Wer aber so weit ist, dies einzusehen und jede politische Systemisierung abzulehnen, ist deswegen noch nicht vor der Extremgefahr gefeit: in den reinen Pragmatismus zu versinken, zur „doppelten Buchführung“ zwischen Sonntags- und Geschäftsmoral überzugehen. Die Misere aller modernen christlich-politischen Programmatik liegt in diesem scheinbar unlösbaren Widerspruch eingeschlossen. Es ist ein außerordentliches Verdienst des österreichischen Philosophen Leo Gabriel, aus diesem Dilemma einen methodischen Ausweg gezeigt zu haben. Seine imponierend kurze und lapidar-beredsame Schrift ist das, was der Philosoph ein Prolegomenon nennt. Sie ist keine politische Philosophie im materialen Sinn.

Aber sie stellt sich und ihren Lesern die Grundfrage, ob es überhaupt eine politische Philosophie geben könne, die echte Philosophie im somatischen Sinn ist, das heißt ein Denken, das sich nicht selbst die Frage versagt, das nicht an einem bestimmten Punkt des Prozesses dem Systemzwang erliegt, nicht vor den tabuisier-ten Grundlagen zurückschreckt, nicht voraussetzt, was eigentlich zu beweisen gewesen wäre. Eine Philosophie aber, die der positivistischen Grundgefahr in gleicher Weise zu entgehen vermag. Gabriel findet den archimedischen Punkt einer solchen Methode in seinem Freiheitsbegriff, der zugleich der einer integrierenden Bindung ist. Er macht das Offensein des Denkens, die Konkretion des Menschen zum eigentlichen Prinzip, aber er legitimiert diese individuelle Freiheit nicht wie der neuzeitliche Subjektivismus aus sich selbst heraus, sondern - eben aus ihrer Bindung an das höhere Ganze. Er weist ungemein überzeugend nach, wie diese nur aus sich selbst legitimierte individuelle Freiheit schließlich in der totalen Diktatur enden mußte und muß, weil ihr die existentielle Sicherheit, die seinsmäßige Deckung dessen, was die Neukantianer „Geltung“ nennen, fehlte und grundsätzlich fehlen mußte. Der Philosoph verzichtet darauf, Thesen an den Anfang zu stellen, Northen, von denen nun abgeleitet werden soll. In thomasischer (nicht unbedingt „thomistischer“) Unbefangenheit wagt er den methodischen Dialog mit den Andersdenkenden, im Fall des Kommunismus mit Ernst Fischer, dem prominentesten Marxisten unseres Landes, im Fall des Existentialismus mit Jaspers und Heidegger.

Erst dann entwickelt er in ruhigem Fluß sein eigenes Konzept.

Gabriel zwingt niemandem ein System auf, er romantisiert keinen Ganzheitsbegriff im Sinn einer Pseudometaphysik, er bleibt auf der Ebene des echten, des fragenden Philosophen. Und er warnt mit großer Eindringlichkeit, dem totalitären Systemdenken des Ostens die Karikatur eines eigenen Systemdenkens der westlichen Welt entgegenzusetzen. Wir sagten es schon: Wer Politik in Freiheit treiben will, muß diesem Prolegomenon entnehmen, wie dies überhaupt möglich ist.

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