Freud, Zensur und Fantasie

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Die Entwicklung von fantastischer Literatur und Fantasy: vom Verschlüsselungsprogramm für den Zensor bis zum Erklärungsmodell für das wirkliche Leben.

Wer hätte das gedacht: Schülerinnen und Schüler lesen freiwillig Hunderte von Seiten auf englisch und übersetzen sie sogar. Rowlings "Harry Potter" ist Kult. Auch Walter Moers' Käptn Blaubär segelte recht erfolgreich durch Kinder- und Elternschlafzimmer, und in der gruseligen Lesewelt abgebrühter Erwachsener dürfte Stephen King ziemlich weit oben auf der Bestsellerliste rangieren, bereits seit einer marktunüblich langen Zeit. Poe und Lovecraft verstehen immer noch zu fesseln, und wer es gern ein bisschen schräger möchte, der landet bei Tom Robbins oder Terry Pratchett. Eines haben all diese Autoren und Bücher gemeinsam: sie entführen aus der Wirklichkeit in eine fantastische Welt bzw. eine der Fantasy. Und das ist keineswegs dasselbe.

An der Zensur vorbei

Das Fantastische in der Literatur galt lange Zeit als probates Mittel, heikle Inhalte an der Zensur vorbeizuschmuggeln. Gesellschaftliche Missstände mussten so nicht direkt angesprochen, sondern konnten gleichnishaft abgehandelt werden, im besten Fall verstand der versierte Leser die Anspielung, ohne dass der Autor deshalb in Schwierigkeiten geriet. Fantastische Literatur setzt sich über Tabus hinweg, wie Kritik an gesellschaftlichen Missständen oder das Thematisieren von Sexualität und Gewalt. Es ist kein Wunder, dass die psychoanalytischen Literaturinterpretationen von Sigmund Freud und seinen Schülern sich neben antiken Stoffen vor allem auch mit fantastischen Texten beschäftigten. (Unter anderen erwies sich etwa E.T.A. Hoffmann als ergiebige Fundgrube.)

Von Fantasy unterscheidet sich fantastische Literatur nun vor allem durch ihren direkten bzw. aus- und angesprochenen Wirklichkeitsbezug. Fantastische Texte pflegen von einer realen, alltäglichen Welt auszugehen, in die das Unwirkliche, Übernatürliche allmählich eindringt, begleitet von leichten Schauern über den Rücken des Lesers. (Man denke an Poe, Lovecraft oder Stephen King.) Mehr noch aber als das Unheimliche ist es das im Unklaren Lassen des Lesers, das typisch ist für fantastische Literatur. Kann es für all die unerklärlichen Vorgänge, die da erzählt werden, doch noch eine natürliche Lösung geben? Oder ist der (Ich-)Erzähler einer Sinnestäuschung erlegen? Oder gibt es tatsächlich mehr zwischen Himmel und Erde, als wir uns jemals träumen ließen? Oft wird der Leser über weite Strecken oder gar bis zum Schluss über die Antwort im Ungewissen gelassen.

Eigene Gesetze

Bei Fantasy, der wesentlich jüngeren Form, eigentlich einem Kind des 20. Jahrhunderts, liegen die Dinge anders. Wir stehen von Beginn an einer Welt gegenüber, in der im Extremfall andere Naturgesetze herrschen als in der unseren, einer Welt, in der sich niemand über Fabelwesen wundert, einer Welt, in der so mehr oder weniger alles möglich ist - im Rahmen der ihr innewohnenden Logik. Denn auch die Fantasy-Universen funktionieren nach gewissen Regeln, nur eben nicht nach jenen, die unseren Alltag bestimmen. Was keineswegs bedeutet, dass Fantasy keine alltäglichen Elemente kennt, es darf schon Menschen und Computer, Arbeitsplätze, Steuerprüfer oder Zahnärzte geben (wie etwa bei Terry Pratchett). Auch eine Parallelwelt der Fantasy-Literatur will sich schließlich nicht völlig von den gewohnten Vorstellungen ihrer Leser abwenden. Denn ohne gewisse Anknüpfungspunkte ist sie für jene vermutlich ungreifbar und damit auch nicht interessant.

Die Grenze zwischen Fantasy und fantastischer Literatur ist manchmal fließend. Man stößt schon früh auf beinahe geschlossene fantastische Welten, zum Beispiel in "Gullivers Reisen" oder "Alice im Wunderland", Texte, die aber primär doch von einer Wirklichkeit ausgehen, wie man sie kennt, selbst wenn sie bereits starke Fantasy-Züge tragen. Auch Harry Potter ist wohl vor allem in diese Tradition zu reihen, wie Gulliver und Alice kehrt er aus seinem Zauberreich doch immer wieder in die "Realität" zurück, wobei aber das Fantastische diese "Alltagswirklichkeit" von Band zu Band mehr vereinnahmt.

Vorläufer Märchen

Vorläufer und Vorbilder der Fantasy-Literatur sind in erster Linie in diversen Märchentraditionen zu suchen - und nicht zuletzt in Thomas Morus' "Utopia". Als Pionier und Vater der modernen Fantasy spielt hingegen J. R. R. Tolkien eine Hauptrolle, mit seiner Trilogie "Der Herr der Ringe". Hier bewegt man sich erstmals ganz konsequent in einer eigenen Welt, Tolkien hat (neben der Handlung und den Figuren) nicht nur eine geografische Grundlage dafür geschaffen, sondern sogar ansatzweise eine eigene Sprache. Konsequenter geht es kaum.

Rekapituliert man nun die obigen Betrachtungen, bleibt festzustellen, dass man sich dabei hauptsächlich im angloamerikanischen Raum bewegt. Und das keinesfalls zufällig. Denn hier kann man auf eine beinahe ungebrochen lebendige Tradition des Fantastischen über die letzten Jahrhunderte zurück blicken. Das kann der deutschsprachige Raum nicht bieten, wo das Fantastische zwar in Romantik und Biedermeier beliebt war, dann ein wenig in Vergessenheit geriet, um zur Jahrhundertwende bzw. später in der Zwischenkriegszeit zu einer neuen Blüte zu gelangen, mit Franz Kafka, Gustav Meyrinck, Leo Perutz, Alfred Kubin, Alexander Lernet-Holenia oder auch, bereits ans Absurde angelehnt: Fritz von Herzmanovsky-Orlando - und das wars dann eigentlich.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde fantastische Literatur zwar auch hierzulande wieder entdeckt, aber so richtig durchsetzen konnte sie sich nur noch auf dem Kinderbuchmarkt. Pädagogisch hoch gepriesen wie etwa Michael Endes "Unendliche Geschichte" bzw. "Momo" oder schmunzelnd augenzwinkernd wie Walter Moers' "Käptn Blaubär".

Das Fantastische als belletristische Größe für Erwachsene wurde abgelöst vom Grotesken bzw. vom Absurden, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil im deutschsprachigen Raum das Aufbrechen von tradierten literarischen Strukturen und das Experimentieren mit neuen nun beinahe schon traditionsgemäß untrennbar mit modernem Schreiben verbunden ist, das auf sich hält - Originalität ist wichtiger als Lesbarkeit - während man im angloamerikanischen Raum keine Scheu davor hat, einfach spannend und intelligent zu erzählen, warum also nicht auch fantastisch?

Erklärungsmodell

Nun war in den letzten Jahren allerdings auch hierzulande eine Rehabilitierung des Erzählens festzustellen; und damit ist es nicht unwahrscheinlich, dass auch fantastische Literatur bzw. Fantasy sich auf unseren Buchmärkten wieder weiter ausbreiten werden.

Außerdem hat sich im Genre ein Paradigmenwechsel vollzogen. Das Fantastische ist vom "Verschlüsselungsprogramm für den Zensor" längst zu einer Art "Erklärungsmodell" geworden, einer Möglichkeit der Distanzierung von der Realität, welche ermöglichen soll, komplexe Ideen oder Gedankengänge verständlich zu machen. Wir begeben uns auf die Ebene des Gleichnisses bzw. auf eine sozusagen abgehobene Ebene, die - erst einmal entschlüsselt - dann doch wieder in unsere Lebenswirklichkeit zurückführt.

Der Künstler, der Schriftsteller oder auch der Regisseur hat damit die Möglichkeit, uns Theorien, Utopien bzw. "Thesen zur Diskussion" oder "neue Welterklärungsmodelle" nahezubringen, die ohne den Umweg über das Fantastische zu trocken, zu einseitig oder zu unverständlich erschienen wären.

Damit ist das Fantastische nicht nur Stilmittel, sondern auch probate Möglichkeit, komplizierte Inhalte auszudrücken - denn selten gibt es nur eine Interpretation, und meist werden verschiedene Bedeutungsebenen miteinander verknüpft.

Und - last but not least kommt fantastisch schließlich von "Fantasie", bietet eine Spielwiese für die Gedankenwelt, die ihr die Option bietet, abstruse, neue, absurde, abwegige oder schlicht und einfach witzige Ideen und Ansätze konsequent durchzuspielen. (Stanisl´av Lem etwa hat diese Möglichkeit auf die Spitze getrieben.)

Heute, in einer Welt der Informationsflut und rasend schneller technischer Neuerungen, könnte das Fantastische (sicherlich auch gepaart mit dem Genre der Science fiction, die sich allerdings ohnehin immer mehr der Realität annähert), zu einem brauchbaren Mittel werden, Lesarten einer komplexen Wirklichkeit zu entwickeln - und das nicht nur für Kinder, sondern auch oder vor allem für Erwachsene. Fantastisch, oder?

Die Autorin ist Universitätslektorin in Budapest und freie Journalistin.

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