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„Freunde“ oder „Brüder“ ?

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Sonntäglicher Gottesdienst im altehrwürdigen Münster der Stadt Bern, einem der Zentren der protestantischen Durchdringung der Schweiz im Zeitalter der Reformation: der besondere Anlaß des seit Jahrhunderten traditionellen Schweizer Dank-, Büß- und Bettages 1960 hat den weiten Kirchenraum mit festlich gestimmten Menschen gefüllt, deren ernste Gesichter eine Würdigung des Grundgedankens dieses Tages, der zur Einkehr und Besinnung aufrufen soll, verraten. Die Stimme des Predigers enthält jene mahnende Strenge, die für den reformierten Flügel des Protestantismus seit jeher bezeichnend war. Der Prediger begrüßt mit leiser Ironie die „seltenen Gäste“, die sich heute in der Kirche versammelt haben, während das Wort Gottes an den meisten Sonntagen des Jahres — wie alle Kenner des kirchlichen Lebens der Städte der reformierten Schweiz bestätigen — nur eine kleine Gemeinde erreicht. Er kommentiert ein Wort der Psalmen, in dem der Aufschrei und die Suche des menschlichen Herzens nach dem Weg zum Ausdruck kommt, den es selbst nicht finden kann, den es aber Gott zu weisen bittet. Die Botschaft des Predigers ist beim ersten Zuhören entmutigend: Er gesteht, daß auch die Kirche diesen Weg nicht zu weisen vermag und daß daher viele Menschen das Vertrauen in sie verlieren und ihre eigenen Wege gehen. Es sei unendlich schwer, den richtigen Weg zu finden, und selbst wenn man ihn gefunden habe, könne man sich noch so leicht verirren. Aber Christus sei der fleischgewordene Weg Gottes: zu Ihm hätten wir immer wieder hinzutreten, uns unserer Unfähigkeit anzuklagen und in jeder einzelnen Situation unseres Lebens den Anruf von Ihm zu empfangen...

Der Inhalt dieser Predigt ist die Quintessenz des existentiellen Erlebens und der theologischen Lehren des Protestantismus, der der totalen Sündhaftigkeit und Verlorenheit des in der Welt verirrten Menschen die Gnade Gottes unmittelbar als erlösenden Ausweg und ständiges Gericht gegenüberstellt. Die Kirche hat in dieser Weltschau kaum mehr als die Funktion, das Wort Gottes in ihrem Räume der Versammelten Gemeinde zu verkünden und hat es darüber hinaus jedem einzelnen zu überlassen, die Nutzanwendung für sein eigenes Leben und das der Menschheit daraus zu ziehen. Die einzige Form der Orientierung und der Verbindung mit Gott ist — wenn man von dem an den Rand des kirchlichen Lebens gedrängten Abendmahl, dessen Auffassung zwischen der Zwinglisehen Interpretation als reiner Erinnerungsfeier und der Calvinschen Lehre einer spirituellen Realpräsenz schwankt, absieht — die Predigt, also die vom berufenen Sprecher der Gemeinde vorgenommene Betrachtung des Wortes Gottes. Sie prägt dem gesamten Gottesdienst ihren Stempel auf, und so wird dieser selbst denn auch in der reformierten Schweiz einfach „Predigt“ genannt. Karl Barth, der größte lebende protestantische Theologe der Schweiz, und im Urteil vieler wohl der ganzen evangelischen Welt, sieht in der zentralen Einschätzung der Predigt einen Hauptunterschied zwischen Protestantismus und Katholizismus. In der Tat: Während in der katholischen Kirche das Opfer des Herrn und der Gläubigen im Mittelpunkt steht und die Predigt nur eine ergänzende, keineswegs essentielle Bedeutung hat, reduziert sich der Gottesdienst der streng reformatorisch orientierten Gemeinde auf das Empfangen und Hören des Wortes Gottes, ist doch das allversöhnende Opfer schon ein für allemal dargebracht, das Entscheidende und Rettende also schon geschehen, und ist doch der Mensch aus eigenen Stücken unfähig zum Guten, zum Werk, also auch zum gottwohlgefälligen Opfer.

DER EINFLUSS KARL BARTHS

Doch wäre es ein Irrtum, zu glauben, daß der streng reformatorische Ansatz Zwingiis und Calvins von der reformierten Kirche der Schweiz lückenlos fortgesetzt und durchgehalten worden wäre: trotz des starken Nachwirkens typisch reformierten Gedankengutes — wie zum Beispiel in der beschriebenen Predigt — hat der Schweizer Protestantismus doch nur e i n Prinzip der Reformation zur praktisch schrankenlosen Entfaltung gebracht: das von Kierkegaard als radikale Subjektivität formulierte, der Souveränität des an der Schrift orientierten und vom Geist Gottes erleuchteten Gewissens des Menschens. Seit in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach heftigen innerkirchlichen Kämpfen die liberale Partei den Bekenntniszwang der Pfarrer und Seelsorger zu Fall gebracht hatte, gibt es keine auch nur formelle Bindung des einzelnen Gemeindehirten an irgendein Glaubensbekenntnis und irgendeinen auch noch so großzügig gefaßten Glaubensinhalt. Die Ordination des theologischen Kandidaten, die ja nach protestantischer Auffassung keinerlei sakralen Charakter haben kann, sondern nur die formelle Tauglichkeitserklärung zur Ausübung des Prediger- und Pfarramtes darstellt, wird durch die Übergabe der Heiligen Schrift seitens der Vertreter der Behörde und die Vereidigung auf sie bzw. deren Verkündigung ergänzt. Die reformierten Kirchen der Schweiz sind kantonal-landeskirchlich organisiert, sie sind sogenannte Volkskirchen, in die man praktisch hineingeboren wird (im Gegensatz zu den „Freikirchen“, die eine ausdrückliche Anmeldung der Mitgliedschaft kennen); sie entsprechen also in ihrem äußeren Aufbau den Intentionen des staatskirchlich gesinnten Zwingli, während im theologischen Lehrgut die Auffassungen Calvins einen tieferen Einfluß ausgeübt haben. Die Pfarrer werden von den Gemeindemitgliedern in ihr Amt gewählt, und nicht selten gibt es erbitterte Richtungskämpfe, die zu Kampfabstimmungen führen, in denen der mehr liberale bzw. der mehr orthodoxe Teil des noch aktivierbaren Pfarrvolkes um die Prägung des geistigen Antlitzes ihrer Kirche ringen. An größeren Kirchen, zum Beispiel den Münsterkirchen, gibt es Vertreter verschiedener Richtungen nebeneinander: kann man in der einen Predigt die extrem liberale Lesart des Christentums im Sinne Albert Schweitzers oder eines Herderschen Humanismus zu hören bekommen, so ist die andere sicher von den Grundgedanken der „dialektischen Theologie“ beeinflußt, die als Abwehrbewegung gegen die Verflachung des Christentums im theologischen Liberalismus entstanden ist. Karl Barth, der mit seinem nach dem ersten Weltkrieg erschienenen „Römerbrief“ der dialektischen Theologie den Weg ebnete und zu einer Neubesinnung auf die Grunddogmen im Rahmen der protestantischen Kirche aufrief,' hat einmal bei einer Tagung den wie eine Bombe einschlagenden Ausspruch getan, daß er seine „liberalen“ Kollegen nur als Freunde, nicht aber als Brüder anreden könne. Tatsächlich aber ist die Barth-sche Schule im Rahmen der reformierten Kirche der Schweiz eine Minderheitspartei geblieben, und es ist sicher keine Übertreibung, zu behaupten, daß der Einfluß der Barthschen Theologie in den angelsächsischen Ländern oder etwa auch in Holland größer ist als in der Schweiz selbst, wo man dem theologischen Karl Barth vielfach entgelten läßt, was man dem politischen“ Karl Barth verübelt.

CALVINISMUS UND KAPITALISMUS

Obwohl sich in allen orthodoxen Theologu-mena Schweizer Provenienz Spuren des Calvinschen Einflusses nachweisen lassen, ist Calvin späterhin auch dogmatisch von den verschiedensten Einflüssen, nicht zuletzt eines gemütstarken Pietismus, überlagert und verdeckt worden. Die von vielen Historikern und Gebildeten als geradezu selbstverständlich hingenommene These Max Webers, wonach die protestantische Ethik ein spezifischer Antrieb für die Ausbildung des Kapitalismus war und sich das aufstrebende Bürgertum der Prädestinationslehre als eines Mittels zur Rechtfertigung ihrer irdischen Reichtümer bediente, indem es sich am äußeren Erfolg orientierte und dieses als Zeichen der Erwählung deutete, begegnet in der Schweiz gewichtigen Bedenken, die zu bedeutenden Einschränkungen und Korrekturen Anlaß geben könnten. Gegen die Weber-Troeltsohe These spricht unter anderem auch die Tatsache, daß der den Frömmigkeitsgehalt und Frömmigkeitsstil des reformierten Volkes beeinflussende, jahrhundertelang als Lehrbuch dienende Heidelberger Katechismus die Prädestinationslehre, die in den Institutionen des Calvin eine zentrale Rolle spielte, nicht übernahm. Wie es sich auch verhalten haben mag — die Rekonstruktion eines rein bewußtseinsmäßigen Zusammenhangs, der aus der Parallelität von aufstrebendem Kapitalismus und um sich greifenden Calvinismus gefolgert wurde, begegnet den größten Schwierigkeiten und wird immer weiten Spielraum für die Interpretation lassen. Heute jedenfalls ist dieser Zusammenhang existentiell auf ein Minimum reduziert und der Reichtum wird auch von den strengsten Calvinisten der traditionell reformatorischen Städte der Schweiz höchstens als Zeichen der „Freundlichkeit Gottes“, aber nicht als ein Spe-zifikum der Erwählung verstanden.

Freilich ist das calvinistische Arbeitsethos, das in den wohlhabenden Schichten die Form eines mehr oder weniger puritanischen oder verschämten Reichtums angenommen hat, auch vielfach das einzige, was sich an religiöser Substanz bei vielen Mitgliedern der Kirche erhalten hat. Des Streites der Theologen müde und den Sinn aufs Praktische gerichtet, befindet sich das reformierte Volk in einem religiösen Abbröcklungs-prozeß, der nicht übersehen werden kann. Doch die protestantischen Theologen sind bereit, den hohen Preis der Verflüchtigung und Zersplitterung zu bezahlen, der mit dem Fortfall jeder Autorität nun einmal verbunden ist. So gesehen bietet der Schweizer Protestantismus ein anschauliches Bild der logischen Fortentwicklung des „protestantischen Prinzips“ mit allen seinen Schwächen und Gefahren, die aber der Protestantismus selbst als Formen christlicher Wandlung und Bewährung auffaßt und damit seinem theologischen Weltbild einverleibt. Auf diesem Fundament ruht auch die Koexistenz zwischen „Brüdern“ und „Freunden“ im Sinne Karl Barths.

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