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Frohe Botschaft oder eine unerträgliche Last?

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Die Debatte über den Gebrauch von Kondomen zum Schutz vor AIDS wirft grundsätzliche Fragen zur katholischen Moraltheologie auf.

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Die Debatte über den Gebrauch von Kondomen zum Schutz vor AIDS wirft grundsätzliche Fragen zur katholischen Moraltheologie auf.

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Ein umfangreiches Dokument, das eine Kommission für gesellschaftliche Fragen der französischen Bischöfe über AIDS herausgegeben hat, hat international großes Aufsehen erregt. Inzwischen hat sich auch die Glaubenskommission der portugiesischen Bischöfe dem Standpunkt der Veröffentlichung der französischen Bischöfe angeschlossen.

Der Punkt, der so große Beachtung gefunden hat, war die Billigung des Gebrauchs von Kondomen zur Vermeidung einer AIDS-Infektion. Es ist bekannt, daß Kardinal Lustiger, der Erzbischof von Paris, seit längerem die Auffassung vertreten hat, die Verwendung des Kondoms zum Schutz gegen AIDS sei erlaubt. Aber die Tatsache, daß sich eine ganze Bischofskonferenz und dann noch eine zweite in einem Sinn geäußert hat, die eine gewisse Belativierung des offiziellen kirchlichen Standpunktes in der Frage der Empfängnisverhütung darzustellen scheint, mußte Aufsehen erregen.

Allerdings wird die Diskussion, wie sie dann geführt wurde, viele Leser oder Zuhörer verwundert haben. Warum kann man nicht einfach sagen, die Verwendung von Kondomen zum Schutz gegen AIDS sei erlaubt? Warum sieht man hier überhaupt ein Problem, wo die Lösung doch klar ist und es doch viel wichtigere Dinge zu diskutieren gibt? Und warum argumentiert man damit, daß das Kondom ein „geringeres Übel" sei (als ungeschützter Verkehr)?

Es hat in den letzten Jahrzehnten in der deutschsprachigen Moraltheologie und darüber hinaus eine intensive Auseinandersetzung um die Frage stattgefunden, ob es konkrete Handlungen gebe, die „in sich" böse und unsittlich seien, das heißt unabhängig von allen Umständen und somit immer. Diese Frage wurde von den meisten Autoren verneint. Freilich räumte man dabei ein, daß es Handlungen geben könne, bei denen die Umstände praktisch immer so seien, daß die entsprechende Tat nicht gerechtfertigt werden kann (zum Beispiel die Todesstrafe). Aber prinzipiell hielt man doch immer auch Ausnahmen von einer Norm für möglich. Außerdem wies man darauf hin, daß die Tradition in Fällen, wo bei einer „in sich" schlechten Handlung Ausnahmen zulässig schienen, einfach ein anderes Wort gebrauchte (zum Beispiel statt Lüge Vorbehalt, oder statt Diebstahl Mundraub und so weiter). Man konnte also sagen, daß die Lüge „in sich" schlecht sei, weil man den zulässigen Ausnahmen einen anderen Namen gab.

Man vertrat weithin die Auffassung, daß sich konkrete Normen immer aus einer Abwägung von guten und schlechten Auswirkungen ergeben, daß eine Handlung also immer erlaubt sei, wenn die positiven Folgen überwiegen, und immer verboten, wenn die negativen das Übergewicht hätten.

Diese Position, die also eine konkrete Norm immer als Ergebnis einer Güterabwägung sieht und deshalb prinzipiell immer auch Ausnahmen für denkbar hält, wurde aber nun von der Enzyklika „Veritatis splendor" alsTeleologismus, Konsequentialismus oder Proportionalismus kritisiert und abgelehnt (VS Nr. 75-83). Die Enzyklika befürchtet in dieser Auffassung einen moraltheologischen Relativismus, eine Aufweichung der Normen und ein Abgehen von der Tradition. Dem stellt „Veritatis splendor" ein anderes Konzept entgegen, das die entschiedene Befolgung sittlicher Forderungen verlangt, auch wenn das die größten Nachteile für den Handelnden mit sich bringt. Der Christ soll in einer Haltung zu den sittlichen Forderungen stehen, wie sie Märtyrer gezeigt haben, die sich zum Glauben bekannt haben und für ihn gestorben sind (VS Nr. 90-94).

Diese Sicht verleiht dem Verständnis von Moral etwas Rigoristisches, was freilich viele eher fasziniert als die Zulassung zahlloser Rücksichten und Ausnahmen. Die Gefahr einer sehr eindeutigen und kompromißlosen Konzeption der Moral besteht aber darin, daß auf den Einzelfall wenig Rücksicht genommen wird und der Eindruck entsteht, als ob der Mensch für die Moral da wäre und nicht die Moral für den Menschen.

Auf diesem Hintergrund ist nun auch die Auseinandersetzung um das Kondom zu verstehen. Die französischen Bischöfe haben sich gegen eine Auffassung entschieden, die ein — mindestens vermeintliches - Ideal zur Norm macht und von AIDS-infizier-ten Personen völlige sexuelle Enthaltsamkeit verlangt, obwohl das viele überfordert. Man konnte sich auf die pragmatische traditionelle Lehre vom „geringeren Übel" berufen, das dann gewählt werden darf und soll, wenn eine Handlung zwar negative Folgen hat, die einzig mögliche Alternative aber ein noch größeres Übel darstellt.

Ein Einwand gegen diese Auffassung besteht darin, daß man bei einer Zulassung von Ausnahmen vom allgemeinen Prinzip Ausweitungen fürchtet. Wenn man das Kondom als Schutz vor AIDS zuläßt, oder die „Pille" zur Sicherheit bei drohender Vergewaltigung und so weiter, warum sollte man solche künstlichen Mittel dann nicht auch zulassen wegen anderer wichtiger Ziele, etwa um die Kinderzahl zu begrenzen? Muß man nicht, um den Anfängen zu widerstehen, hier jeden Gebrauch solcher Mittel als sündhaft hinstellen? Kann man es dem Verantwortungsbewußtsein der einzelnen Gläubigen überlassen zu unterscheiden, wo eine Ausnahme zulässig ist und wo nicht?

Natürlich bleibt in der Äußerung der französischen und portugiesischen Bischöfe die Frage, warum denn der Gebrauch des Kondoms überhaupt ein Übel ist, wenn auch ein geringeres. Warum bringt in der österreichischen Diskussion Weihbischof Laun den Vergleich, daß die Empfehlung von Präservativen, das gleiche sei, „wie Dieben zu empfehlen, Lederhandschuhe zu tragen"? Warum soll es eine „Sünde" sein, ein Kondom zu verwenden, um sich oder andere gegen AIDS zu schützen? Das ist die Frage, auf die auch Bischof Stecher hinweist, wenn er meint, eine ausnahmslos geltende Norm müsse sich auch in Extremsituationen bewähren und man müsse bei der Forderung einer völligen Enthaltsamkeit eines Ehepaares, bei dem ein Partner AIDS-krank ist, in einsichtiger Weise darlegen können, wo und wann Gott ein derartiges Verbot ausgesprochen hat oder aus welcher göttlichen Weisung sich diese ans Menschenunmögliche grenzende Forderung konsequent ergibt.

Ist es tatsächlich eine Forderung der Liebe, die ja die Erfüllung des Gesetzes ist (Rom 13,10), daß ein Ehepaar, von dem ein Partner HlV-infiziert ist, besser für den Rest seines Lebens auf ehelichen Verkehr verzichtet, als ein Kondom zu benützen? Es wäre gut, hier wieder einmal die Worte Jesu zu den Schriftgelehrten und Pharisäern Mt 23,4 zu lesen: „Sie schnüren schwere Lasten zusammen und legen sie den Menschen auf die Schultern, wollen selber aber keinen Finger rühren, um die Lasten zu tragen." Das sei nicht als billige Polemik gemeint. Aber es ist doch zu fragen, ob Jesus wirklich eine Moral verkünden wollte, die von den Gläubigen als schwere, oft fast unerträgliche Last empfunden werden muß, oder ob es nicht zum Wesen einer christlichen Moral gehört, daß auch sie „frohe Botschaft" ist.

Der Autor ist Ordinarius für Moraltheologie an der Universität Innsbruck und Jesuit

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