Für eine offene Kirche in einer offenen Gesellschaft

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"Lehmann ging über Grenzen hinaus, des Faches wie der Konfession. Karl Rahner blieb ein Bezugspunkt für ihn, ohne dass er zum Rahnerianer geschrumpft wäre."

Er war -mit dem Titel seiner Biografie -einfach der Kardinal. Man schrieb ihm sogar, weniger freundlich, eine eigene Kirche zu: die Lehmann-Kirche. Sie soll für Anpassung an den Zeitgeist stehen, für billigen Ausverkauf des kirchlich Allerheiligsten, etwa wenn es um die Zulassung von wiederverheirateten Geschiedenen zur Kommunion ging, für die Lehmann schon vor vielen Jahren initiativ wurde, oder wenn der langjährige Mainzer Bischof aus tiefer pastoraler Sorge für einen Verbleib der katholischen Kirche in der Schwangerenkonfliktberatung eintrat. Und auch stritt. Denn das konnte der so verbindliche Mensch und Priester Karl Lehmann, wenn es sein musste. Wer ihn erleben durfte, spürte eine spontane und unverstellte Herzlichkeit im zwischenmenschlichen Kontakt. Im Gespräch schlug er Funken intellektueller Begeisterung und Schneisen der Aufmerksamkeit für sein Gegenüber und das gemeinsame Thema. Das war nicht die Kirche, sondern Gott. Um Gott ging es diesem Wissenschaftler, und zwar um den Gott, der im Menschen den Menschen zugewandt ist. Ihn zu denken, ihn erfahrbar zu machen -darum war es Karl Lehmann zu tun, wenn er als Bischof und Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz und eben auch als Kardinal der Weltkirche jene aufreibenden politischen Agenden betrieb, an denen der gesellschaftliche Haftwert des Evangeliums und die Handlungsfähigkeit der Kirche hängt.

Jüngster Bischof Deutschlands

Diese Geschäfte hat sich Karl Lehmann nicht ausgesucht. Sie kamen auf ihn zu: Schon mit der Würzburger Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, die er von 1971 bis 1975 maßgeblich bestimmt hat, dann seit 1983 als Bischof von Mainz. Mit 47 Jahren war Lehmann der Jüngste in einer Konferenz von Bischöfen, die ihn bereits vier Jahre später zum Vorsitzenden wählten. Man kam an Lehmann nicht vorbei: an seinem diplomatischen Geschick und seiner Leitungskompetenz, vor allem nicht an seiner überragenden theologischen Gelehrsamkeit. Ein Theologe betrat hier die öffentliche Bühne, die er für seine Kirche mit unverwechselbarer Ausstrahlung besetzte: souverän und kritisch, jederzeit inspirierend, nicht ohne dieses Lächeln und Lachen, das sich mit seiner Stimme eingeprägt hat. Bis in die deutsche und europäische Politik hinein war er als Ratgeber gefragt.

Dabei galt die professionelle Liebe des begeisterten Lesers und produktiven theologischen Schriftstellers vor allem seinem Fach. Lehmann war Theologe durch und durch. Nicht nur seine Bibliothek von 100.000 Bänden steht dafür, mehr noch seine unzähligen Vorträge, Aufsätze und Bücher, die von der stupenden Belesenheit, vor allem aber der Aufnahmefähigkeit und diskursiven Neugier des gelernten Dogmatikers zeugen. Karl Rahner hatte ihn schon in Lehmanns römischer Studienzeit während des Konzils für eine Mitarbeit gewonnen, aus der später Jahre als Assistent in München und Münster wurden: In die Produktion Rahners aus dieser Zeit ist auch manches vom jungen Lehmann eingeflossen. Als man ihn 1968 nach Mainz, dann 1971 nach Freiburg auf eine Professur berief, entwickelte er einen eigenen theologischen Ansatz. Er verfolgte dabei einen konsequent geschichtlichen Ansatz in der Theologie, wie er ihn mit seiner Promotionsschrift (1967)"Auferweckt am dritten Tag nach der Schrift" grundgelegt hatte. Diese Arbeit charakterisiert den Theologen Lehmann: Er ging über Grenzen hinaus, des Faches wie der Konfession. Karl Rahner blieb ein Leben lang ein Bezugspunkt für Lehmann, ohne dass er zum Rahnerianer geschrumpft wäre. Der geschichtliche Weg seiner Theologie passt dabei zum theologischen Format, in das ihn seine kirchlichen Aufgaben führten. Ein eigenes theologisches Hauptwerk ist in den Jahren als Vorsitzender der DBK entstanden. Es funktioniert über Eingriffe, mit denen er die Position seiner Kirche in den Zeichen der Zeit bestimmte. Auf diese Weise ist Karl Lehmann zu einem Lehrer seiner Kirche geworden.

Das gilt in besonderem Maße von der Ökumene, für die sein Herz schlug. Lange Jahre leitete er den Ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen gemeinsam mit Wolfhart Pannenberg. Die theologischen, aber auch die praktische Früchte von der "Gemeinsamen Erklärung über die Rechtfertigungslehre" bis zu der jüngsten Entscheidung der deutschen Bischofskonferenz, in Einzelfällen den Kommunionempfang in konfessionsverbindenden Ehen zu ermöglichen, hängen mit Lehmanns Arbeit eng zusammen.

Sein Leben lang trat er für eine offene Kirche in einer offenen Gesellschaft ein. Sein geschichtliches Denken erlaubte es ihm, die eigene Tradition dynamisch zu denken und für anstehende Probleme neue Lösungen zu finden. Dem entsprach das Selbstverständnis eines Brückenbauers, wie er es in seiner Dankesrede zur Verleihung des Theologischen Preises der Salzburger Hochschulwochen 2013 in einem seiner wenigen autobiografischen Texte vertrat.

Brückenbauer in Kirchenkonflikten

Als nach der "Kölner Erklärung" mehr als 700 Theolog(inn)en weltweit gegen den autoritären Stil der Kirchenleitung unter Johannes Paul II. protestierten und ein scharfer Konflikt mit dem Lehramt ausbrach, richtete Lehmann die "Mainzer Gespräche" ein, ein Forum zum Austausch der akademischen Theologie mit dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz. Viele Probleme konnten auf diesem Weg gelöst werden.

Die breite Anerkennung, die Karl Lehmann erfahren hat, fand kirchlichen Ausdruck in der späten Verleihung der Kardinalswürde 2001. Dass Rom den Vorsitzenden der DBK auch 2001 zunächst überging, zeigt im Spiegel seiner Kritiker das Format des Theologen, den man ausdrücklich nicht berücksichtigen wollte. Schließlich gab öffentlicher und auch politischer Druck den Ausschlag, Lehmann doch zum Kardinal zu küren. An zwei Konklaven nahm er noch teil; aus dem zweiten ging ein Papst hervor, mit dem sich auch die kirchliche Perspektive Kardinal Lehmanns durchsetzte. Im Jahr 2016 trat er als Bischof von Mainz zurück. Gesundheitliche Probleme hatten ihn bereits 2008 dazu veranlasst, seine Funktion als Vorsitzender der DBK aufzugeben. Maßgeblich hat er nicht nur sie bestimmt, sondern die gesamte katholische Kirche in Deutschland. Am Ende seines Lebens hat Kardinal Lehmann die Aufbrüche der Kirche unter dem Pontifikat von Franziskus sehr zustimmend wahrgenommen und entschlossen weitere Schritte gefordert: vom Diakonat der Frau bis zur Zulassung von viri probati zum priesterlichen Dienst. Es zeichnen sich da dramatische Umbrüche in einer Kirche ab, die ihren Ort neu bestimmen muss.

Dafür hat ihr der Theologe und Bischof Karl Lehmann einen biografischen Kompass hinterlassen. Das gilt bis in sein Sterben hinein. Krankheit hat die letzten Lebensjahre bestimmt. Am Ende seines Lebens steht eine Kreuzeserfahrung, aber die Schlaganfälle, die ihn trafen, haben ihn nicht gebrochen. Kardinal Lehmann wird über den Tod hinaus präsent bleiben -als ein Großer der katholischen Theologie und Kirche im Übergang des 21. Jahrhunderts.

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