Bartholomäusnacht - © Foto: Getty Images

Fundamentalismus und Extremismus: Wann ist eine Religion "gut"?

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Die Frage, wann eine Religion „gut“ ist – und wann extremistisch oder fundamentalistisch - wird derzeit vor allem in Hinsicht auf den Islam gestellt. Doch sie betrifft alle Religionen. Über Gott als kritisches Korrektiv der Gläubigen – und die Gefahr zweifelloser Gewissheit.

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Die Frage, wann eine Religion „gut“ ist – und wann extremistisch oder fundamentalistisch - wird derzeit vor allem in Hinsicht auf den Islam gestellt. Doch sie betrifft alle Religionen. Über Gott als kritisches Korrektiv der Gläubigen – und die Gefahr zweifelloser Gewissheit.

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Wie „gut“ eine Religion ist und ob sie, sollte sie nicht gut sein, gegen ­eine bessere getauscht oder ob Religion überhaupt vermieden werden kann: Solche Fragen unterstellen die Möglichkeit der freien Wahl oder des schadlosen Verzichts. Religion aber ist kein Konsumartikel, sondern die Folge eines menschlichen Grundbedürfnisses. Vom Beginn seines Lebens an ist der Mensch ein Beziehungswesen, muss er sich zu allem in Beziehung setzen können, was ihn umgibt: zu den frühen Bezugspersonen, zu anderen Menschen, zum jeweiligen kulturellen Ambiente und schließlich zur Welt im Ganzen. Denn alles, was Menschen tun, was ihrer gestaltenden Kraft zugänglich ist, bleibt von unverfügbaren Bedingungen abhängig. Diese Bedingungen, die Zufälle des Lebens, fordern dazu heraus, sie als Fragmente eines umfassenden Zusammenhangs zu sehen, um sich in dieser Welt einigermaßen beheimatet fühlen zu können. Ein intelligentes Lebewesen, meint die Psychoanalytikerin Ana Maria Rizzuto, komme mit seiner Welt nicht zurecht, wenn es diese nicht im Ganzen verstehen kann.

Alle Religionen sind Entwürfe holistischer Weltdeutung, in deren Rahmen die Anfechtungen des Daseins Sinn zu finden suchen: in Bezug auf die Bindung des Geistes an den hinfälligen Körper, auf die Herrschaft der Zeit, auf Endlichkeit und Tod. Für den Psychologen Ernest Becker steht der Mensch in einer unauflösbaren Spannung zwischen körperlichen Notwendigkeiten und seelisch-geistigen Prozessen, eine Spannung, die das Selbstwertgefühl bedroht. Aus der Angst, als unverwechselbares Individuum nicht wahrgenommen zu werden, letztlich bedeutungslos zu verenden wie ein tierischer Organismus, entstehe eine brennende Sehnsucht danach, etwas zu zählen, nicht ohne Sinn auf diesem Planeten gelebt, gearbeitet, gelitten zu haben und gestorben zu sein.

Bewusstsein als Störfaktor

Das Bewusstsein, mit dem der Mensch nun einmal ausgestattet wurde, ist der große Störfaktor, der daran hindert, mit der Natur in Einklang zu leben– und der verlangt, so etwas wie Selbstachtung zu gewinnen. Zum Bewusstsein gehört aber auch die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und Selbstdistanz. Religion ist dann gut, wenn sie als Medium der Selbsterkenntnis wirkt. Dann bleibt Gott das kritische Gegenüber, die unbestechliche Messlatte menschlicher Selbstwahrnehmung und Praxis. Diesen Gott bringt zum Beispiel der Prophet Nathan zur Sprache, wenn er den ehebrüchigen König David zur Rede stellt. Immer wieder geschieht der Rückverweis auf den Menschen selbst, der sich gern mit der Schuld und dem Versagen anderer beschäftigt. Du selbst bist dieser Mensch, sagt Nathan zu David; du siehst den Splitter im Auge des Anderen und nicht den Balken im eigenen, sagt Jesus in der Bergpredigt. Die je eigene gute Praxis auf der Basis der Selbsterkenntnis ist das Kriterium der guten Religion; dies wird an manchen Stellen der verschiedenen heiligen Schriften höher gewertet als die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe– die Geschichte vom barmherzigen Samaritaner ist dafür ein Beispiel.

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