Gandhis verratenes Vermächtnis

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Fünfzig Jahre nach der Bluttat gleicht Indien wieder einem Hexenkessel ethnischer und religiöser Konflikte. Mitte Februar wird ein neues Parlament gewählt.

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Fünfzig Jahre nach der Bluttat gleicht Indien wieder einem Hexenkessel ethnischer und religiöser Konflikte. Mitte Februar wird ein neues Parlament gewählt.

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Freitag, 30. Jänner 1948, 16.30 Uhr: Mahatma Gandhi wird das Abendessen gebracht. Als Vegetarier nimmt er niemals Fleisch zu sich, von Alkohol, den er als "Feind der Menschheit" bezeichnet, gar nicht zu reden. Seine Mahlzeit besteht aus Gemüse, Obst und Ziegenmilch. Niemand ahnt, daß diese Mahlzeit die letzte des hochverehrten Mahatma ist.

Zehn Minuten später als üblich, um 17.10 Uhr, läßt sich Gandhi, gestützt auf Freunde, auf den Platz führen, auf dem sich Hunderte Menschen zur Gebetsstunde versammelt haben. Plötzlich stellt sich ein Mann in den Weg, verneigt sich tief vor Gandhi - und tritt dann einen Schritt zurück. In seiner Hand hält er eine kleine Pistole, aus der er drei Schüsse abfeuert. Gandhi haucht noch "Heram" (Mein Gott) und stürzt zu Boden. Er ist sofort tot.

Hindu-Fanatiker Ganz Indien, ja die ganze Welt stellt sofort die Frage: Wer ist der Mörder dieses Mannes, den Millionen als "Heiligen" verehren? Ein Moslem? In diesem Fall wäre der Subkontinent in einem Meer von Blut ertrunken. Doch der Mörder ist - Hindu. Sein Name: Nathuram Vinaiyak Godse (35), Angehöriger der Brahmanen-Kaste, Redakteur einer hinduistischen Zeitung, die in Pune (zwanzig Flugminuten von Bombay) erscheint.

Was veranlaßte diesen Mann, ausgerechnet den "Apostel der Gewaltlosigkeit" zu ermorden? Godse war Mitglied einer hinduistischen Verschwörergruppe, die Gandhi vor allem wegen seiner Toleranz gegenüber den Moslems, die 1947 die Gründung des islamischen Staates Pakistan durchgesetzt hatten, zutiefst haßte. Durch Gandhis Versuch, den jahrhundertealten Gegensatz zwischen den beiden großen Religionen, Islam und Hinduismus, auszugleichen, sahen die Hindu-Fanatiker ihre Interessen massiv bedroht.

An Morddrohungen gegen Gandhi hatte es in den letzten Monaten nicht gefehlt. Schon kurz vor seiner Ermordung wurde ein Anschlag versucht, der jedoch fehlschlug. Eine Handgranate war zur Explosion gebracht worden, ohne aber großen Schaden anzurichten. Wie sich bald herausstellte, war der Attentäter namens Madan Lal kein Profikiller, sondern ein Hindu-Flüchtling aus dem Punjab, jener Provinz im Nordwesten Indiens, die durch die Gründung Pakistans in zwei Teile zerrissen wurde.

Madan Lal war Augenzeuge der grauenhaften Massaker, die als Folge der Teilung des Subkontinentes mehr als zwei Millionen Menschen das Leben kosteten. Sechzehn Millionen Menschen sollen aus ihren Wohngebieten vertrieben worden sein, verloren ihr Hab und Gut. Mitverantwortlich für das ungeheure Elend, das die Teilung mit sich brachte, war die Teile-und-herrsche-Politik der Briten, die auch in Afrika und im Mittleren Osten bis auf den heutigen Tag katastrophale Folgen hat.

Gandhi verzeiht Gandhis Reaktion auf das mißglückte Handgranaten-Attentat war bezeichnend. Er verzieh dem Täter, so wie er immer bemüht war, seine Feinde als Freunde zu gewinnen. Leibwächter oder gar Sicherheitskontrollen seiner Besucher lehnte er weiterhin strikt ab.

Anstelle von Madan Lal übernahm nun Godse, der ebenfalls Mitglied der radikalen RSS (einer Terrororganisation militanter Hindufanatiker, die immer noch aktiv ist) war, den Auftrag, Gandhi zu ermorden. Der Prozeß gegen Madan Lal, Godse und sieben andere Verschwörer dauerte ein halbes Jahr. Godse wurde zum Tod durch den Strang verurteilt.

Über eine Million Menschen versammelten sich am 31. Jänner 1948 nahe den Gewässern des heiligen Stromes Jumma. Weiß, das in Indien als Trauerfarbe gilt, dominierte die Kleidung der Massen, die sich von ihrem geliebten Mahatma verabschieden wollten. Am Radschgat hatte man aus Steinen und Ziegeln ein Podium errichtet, auf dem wohlriechendes Sandelholz aufgestapelt war. Langsam näherte sich die Prozession mit dem Leichnam Gandhis, der auf einem Bett von Blumen lag. Dann wurde der Tote auf den Scheiterhaufen gelegt, nach hinduistischer Tradition mit dem Kopf nach Norden. Gandhis dritter Sohn entzündete den Holzstoß. In Kürze zerfiel alles was an Gandhis sterblich war, in den Flammen zu Asche.

Während meiner letzten Indienreise stand ich am südlichsten Punkt Indiens, dem sonnendurchglühten Kap Kanya Kumari, nach der "Göttlichen Jungfrau" Kumari benannt. Dort, wo die Arabische See, der Golf von Bengalen und der Indische Ozean zusammentreffen, wurde - wie die Inschrift auf einem schwarzen Marmorblock besagt - die Asche Mahatma Gandhis am 12. Februar 1948 aufbewahrt, ehe man sie ins Meer versenkte. Seither wird der nach Benares (heute wieder Varanasi) heiligste Ort Indiens von noch mehr Pilgern besucht als vorher.

Brandherde Fünfzig Jahre nach der Ermordung Gandhis, des großen Apostels absoluter Gewaltlosigkeit und Toleranz, gleicht Indien wieder einem Hexenkessel. An allen Ecken und Enden des Vielvölkerstaates, dessen Bevölkerungszahl sich rapid der magischen Milliarde nähert, flammen Brandherde politischer und sozialer, ethnischer und religiöser Konflikte auf. Fanatische Hindu-Extremisten, deren Fernziel ein hinduistischer "Gottesstaat" ist, verzeichnen durch ihren politischen Arm, die "Bharatiya Janata Partei" (BJP) immer größere Erfolge. Die gigantische Korruption der verkrusteten Kongreßpartei, der nun die charismatischen Persönlichkeiten Nehru, Indira Gandhi und Rajiv Gandhi fehlen, läßt die Wähler scharenweise zu den "Rechtsextremen" überlaufen, die nun den zweitgrößten Block im Parlament darstellen.

Vor-Wahlkampf Um aus dem Tief herauszukommen, versucht die Kongreßpartei im Vorfeld der für Mitte Februar angesetzten Parlamentswahlen, die Massen Indiens wieder einmal mit dem magischen Namen Gandhi in ihren Bann zu ziehen. Diesmal sollen die Witwe Rajiv Gandhis, Sonia Gandhi (50), und ihre Tochter Priyanka als Zugpferde dienen. Sonia lebt in einer schwer bewachten Villa in New Delhi und verwaltet die Stiftungen der Familie. Während sie offiziell lange Zeit abseits der Politik stand, übte sie doch indirekt einen großen Einfluß auf verschiedene Fraktionen der Kongreßpartei aus. Bisher hat sie es immer abgelehnt, als Galionsfigur der Partei in Erscheinung zu treten, doch wird in letzter Zeit ihr Name immer öfter als potentielle Spitzenkandidatin genannt.

Was allerdings ein politischer Bumerang werden könnte, denn die Hindufanatiker der BJP sind nicht nur radikal anti-islamisch, sondern lehnen auch jeden ausländischen Einfluß ab. Die gebürtige Italienerin müßte deshalb mit massivem Widerstand breiter Volksmassen rechnen.

Inzwischen sind die Erben Mahatma Gandhis mit blutigen religiösen und ethnischen Konflikten in vielen Teilen Indiens konfrontiert. Besonders brisant ist die Situation in Kaschmir, wo seit vielen Jahren ein "vergessener Krieg" zwischen islamischen Freiheitskämpfern und den indischen Regierungstruppen tobt. Das einst "glückliche Tal" ist nun zu einem "Tal des Todes und der Tränen" geworden. Im benachbarten Punjab kämpfen nach wie vor Sikh-Extremisten für einen unabhängigen Sikh-Staat "Khalistan". Auch im "Wilden Osten" Indiens, in Assam, wollen militante Separatisten eine Abspaltung von Indien erzwingen.

Gerade am 50. Jahrestag der Ermordung Mahatma Gandhis fragen sich Millionen Menschen in aller Welt, ob niemand mehr dessen Botschaft von Menschlichkeit, Frieden und Versöhnung hören will. Ist Mahatma Gandhi umsonst gestorben?

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