"Ganz einfach weitergegangen"

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Vorsichtig optimistisch bewertet der prominente Befreiungstheologe Paulo Suess die Ergebnisse der lateinamerikanischen Bischofsversammlung von Aparecida - und kritisiert Papstaussagen über die Indios.

Lateinamerikanische Bischofsversammlungen waren richtungsweisend: Das Treffen von Medellín 1968 formulierte die vorrangige "Option für die Armen" und brachte den Durchbruch der Befreiungstheologie. Die Versammlungen 1979 in Puebla und 1992 in Santo Domingo waren dann von der Polarisierung zwischen Befreiungstheologen und deren Gegnern geprägt - ohne die "Option für die Armen" aufzugegeben. Santo Domingo stand am Rand des Abbruchs, weil sich viele Bischöfe von den Interventionen der Vatikanvertreter brüskiert fühlten. Auch bei der eben zu Ende gegangenen Bischofsversammlung von Aparecida unterband die "römische Seilschaft", so Paulo Suess, wesentliche Diskussionen. Der 1938 in Köln geborene und seit 1966 in Brasilien tätige Befreiungstheologe und Priester bewertet das Ergebnis von Aparecida als Fortsetzung des Kirchen-Weges.

Die Furche: Die 5. Lateinamerikanische Bischofsversammlung ist am 31. Mai zu Ende gegangen. Ihr Resümee?

Paulo Suess: Aparecida ist zunächst ein Ereignis und ein Dokument. Es gab große Wallfahrten, eine Wallfahrtsnacht der Basisgemeinden von acht Uhr abends bis morgens früh, es gab den Kongress der katholischen Laienorganisation Brasiliens. Es gab Amerindia, eine Gruppe lateinamerikanischer Theologen, die Bischöfen zugearbeitet hat, es gab den Besuch des Papstes - das alles gehört auch zu Aparecida. Und es gehört dazu auch das populäre Klima der einfachen Pilger, die die ganze Zeit da waren, sodass die Bischöfe sahen: Wir sprechen eigentlich in diesem Dokument für diese ganz konkreten Menschen, die hierher kommen, mit ihren Nöten, die wir ja auch aus unseren Diözesen kennen.

Die Furche: Und wie beurteilen Sie Schlussdokument?

Suess: Die Kirche hat in Aparecida nicht Halt gemacht, sie hat keinen Ruck gebraucht, sondern sie ist ganz schlicht weitergegangen: Da sind Erfahrungen aus Medellín mit drinnen - Befreiungstheologie, die Option für die Armen, die Methode Sehen-Urteilen-Handeln, die sehr wichtig ist in Südamerika. Da sind auch die Basisgemeinden, die Indios als Protagonisten, die Afroamerikaner als wichtige Subjekte im Kampf um Befreiung nicht nur genannt. Es wird auch beschrieben, wie der Kampf um Land der kleinen Landbesitzer, die Gefahr, die durch die Monokultur in der globalsiserten Wirtschaft entsteht. Das wurde dann alles in den Rahmen einer Sicht aus dem Glauben von Jesus Christus her gestellt. Kurz: Wir sind auf dem Weg, wir sind nicht rückwärts gegangen, die Kirche hat sich weiterhin geöffnet für diejenigen, die sie brauchen.

Die Furche: Was war in Aparecida anders als in Santo Domingo 1992 oder Puebla 1979?

Suess: Das Klima war ganz anders. In Santo Domingo und in Puebla war es ein kämpferisches, da hat man die Reaktion auf Medellín gespürt: Medellín, das muss jetzt abgeschafft werden. Das war jetzt nicht mehr da. Medellín ist im Dokument nur einmal erwähnt worden, aber die Inhalte sind da - und das ist wichtig. Es hat sich seither manches geändert in der Sprache, die hat sich mehr den geistlichen Bewegungen angepasst, ist charismatischer geworden und nicht immer analytisch, sie ist in einen spiritualistischen Rahmen eingepasst, aber das schädigt diesen Weg nicht.

Die Furche: War die Kirche auch in ihrer Pluralität sichtbar?

Suess: Das Klima in Aparecida war sicher besser als in Santo Domingo, man hat miteinander kommuniziert, es gab keine feindlichen Blöcke, obwohl es natürlich unterschiedliche Seilschaften unter den teilnehmenden Bischöfen gab - es gab die Leute aus der Befreiungstheologie, es gab die Gruppe der "guten Hirten", dann die "römische" Gruppe, die Gruppe der geistlichen Bewegungen und es gab die Gruppe dazwischen, die sich pragmatisch einmal für die einen und einmal für die andern entschieden hat. Aber man hat einen Modus vivendi gefunden, im Dokument sind dann alle vertreten. Das entspricht der Wirklichkeit der Basis, wo ja charismatische Gruppen großen Zulauf haben, aber wo es eben auch Basisgemeinden gibt, bei denen das Soziale mehr im Vordergrund steht.

Die Furche: Die katholische Kirche Brasiliens verliert pro Jahr zehn Prozent ihrer Mitglieder. Gab es Ansätze, darauf zu reagieren?

Suess: Das war ja auch der Anlass, warum diese Bischofsversammlung nach Aparecida verlegt wurde. Denn als der Papst hörte, dass in Brasilien jedes Jahr zehn Prozent verloren gehen, dann dachte man, vielleicht könnte die Konferenz Impulse geben, diese Abwanderung zu stoppen. Die Christenheit und die ganze Welt sind pluraler geworden. Wir wollen nicht, dass unser Glaube zu einer Diaspora-Situation führt. Aber das kann nicht mit apologetischen Strategien erreicht werden, sondern man muss darum kämpfen, dass man glaubwürdig ist in der Präsenz neben den Armen und Notleidenden - und man muss kohärent sein mit dem Evangelium. Diese zwei Pole sind wichtig. Wichtig ist unsere Präsenz und dass wir versuchen, die Probleme punktuell zu lösen. Das Ganze können wir nicht lösen, denn das sind Strukturen der Ungerechtigkeit. Wir müssen ja, wenn wir eine Option für die Armen eingehen, die Strukturen, die sie arm gemacht haben, immer wieder anklagen.

Die Furche: Findet sich darüber etwas auch im Dokument von Aparecida?

Suess: Die Kirche tut sich leichter, vorzuschlagen, Strukturen der Gesellschaft oder der Ökonomie zu verändern, als ihre eigene Strukturen.

Die Furche: Die Kirche müsste auch ihre eigene Strukturen ändern?

Suess: Ja, denn die Ämterstruktur ist der pluralen Welt nicht mehr gewachsen. Warum wandern so viele ab? Weil bei den neuen Kirchen größere Präsenz da ist. Wenn Sie heute an die Peripherie von São Paulo gehen, dann finden Sie überall kleine Kirchen von evangelikalen Kleingruppen. Warum? Weil die haben eine dezentralisierte Ämterstruktur. Wenn wir unsere Ämterstruktur nicht dezentralisieren, dann verläuft sich die Herde.

Die Furche: Ist dieses Thema unter den Bischöfen besprochen worden?

Suess: Nein, denn über Änderungen der Ämterstrukturen durfte nicht diskutiert werden. Das hat die "römische" Seilschaft abgeblockt. Es durfte auch nicht über indianische Theologie, Befreiungstheologie oder über den Neoliberalismus geredet werden.

Die Furche: Aber es sind trotzdem Werte, die nicht zur Sprache kommen durften, im Dokument drinnen?

Suess: So ist es. Von Befreiungstheologie ist nicht die Rede, aber es sind im Grunde deren Anliegen aufgegriffen worden. Und das ist wichtiger. Das ist ja das beste, was einer Theologie passieren kann, dass sie Wurzeln schlägt.

Die Furche: Es war auch von einer "großen Kontinentalmission" die Rede.

Suess: Das ist nicht das zentrale Thema geworden. Denn Mission, wenn wir das richtig verstehen, die muss ja von der Geografie zur Seinsweise werden. Darum hat sich ja auch der Papst bemüht. Es geht nicht darum, Länder oder eine Kontinent zurückzuerobern, sondern es geht darum, dass wir wirklich in der Pfarre über die Grenzen hinausdenken. Die Kirche ist nur lebendig, wenn sie über die Grenzen einer Gemeinde, einer Diözese hinaus denkt. Es geht um die Ausstrahlungskraft der Kirche. Es geht um die Kohärenz mit dem Evangelium und um die Relevanz für die Gesellschaft.

Die Furche: Es gibt aber auch große Bewegungen in der katholischen Kirche, etwa um den TV-Star und Priester Marcelo Rossi in Brasilien: Dessen Theologie stimmt mit dem nicht überein?

Suess: Die sind nicht relevant für die Nöte der Menschen. Sie spielen darüber hinweg durch Emotionalisierung der Gottesdienste. Da gibt es kein soziales Engagement, aber auch keine religiöse Vertiefung. Im Grund ist das nur eine Ablenkung von den eigentlichen Nöten. Das ist nicht das Evangelium. Diese Theologie ist keine Kreuzestheologie, der Gekreuzigte kommt nicht vor, die Gekreuzigten auch nicht.

Die Furche: Aber die Zahlen: Rossi sagte, bei der Papstmesse waren 150.000, wäre er da gewesen, wären 500.000 gekommen …

Suess: … gehen wir davon aus, dass er mit dieser Zahl recht hat: Ich denke, wir sollten uns nicht von Zahlen beeindrucken lassen, sondern von der Qualität, wie das Evangelium gelebt wird. Wenn man nur aufs Emotionale setzt, ist das eine Verdummung: Das ist das Opium für das Volk, wie Marx sprach! Aber das Christentum ist kein Opium für das Volk!

Die Furche: Sie haben jene Rede des Papstes in Brasilien scharf kritisiert, in der er sagte, die präkolumbianischen Indios hätten die Ankunft der Priester "still herbeigesehnt", ohne nur mit einem Wort auf die Gräuel der Conquista einzugehen (er hat das dann zehn Tage später in Rom nachgeholt).

Suess: Das kritisiere ich weiterhin: Wir dürfen auch als gläubige Christen nicht davon ausgehen, dass andere Menschen eine gebrochene Identität haben, weil sie nicht katholisch sind. Indios haben nicht aufgrund einer mangelnden Identität auf das Christentum gewartet und im Katholizismus ihre volle Identität erhalten. Sie hatten vorher schon Identität. Außerdem: Wir alle haben gebrochene Identitäten, weil durch alle Kulturen Strukturen der Sünde hindurchgehen. Und es waren ja Strukturen der Sünde tätig an den Pforten des Christentums, durch die die Indios dann hineingezwängt wurden. Man könnte es fast mit Walter Benjamin ausdrücken - das sind die Bedingungen eines Kulturwerkes: Wenn wir schauen, unter welchen Bedingungen dieses entstanden ist, müssen wir immer sagen: Es waren Bedingungen der Barbarei.

Das Gespräch führte Otto Friedrich.

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