Gebet als Peinlichkeit

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"Das ist ja peinlich!", so reagierten Bekannte beim gemeinsamen Fernsehen am letzten Sonntag, als die frischgebackenen Fussballweltmeister aus Brasilien sich im Kreis zum Gebet auf den Rasen im Stadion von Yokohama knieten. Einige trugen Leibchen mit Aufschriften wie: "I belong to Jesus", "100% Jesus" und ähnliches. Zwischen dem Halbfinale und dem Endspiel soll die Selecao nicht nur Standardsituationen geübt und den Gegner studiert haben, es soll zusätzlich Stunden gegeben haben, in denen gemeinsam in der Bibel gelesen wurde.

Freikirchen spielen in Brasilien eine wachsende Rolle, auch im politischen Geschäft. Sie sollen einen großen Einfluss auf die liberale Partei haben, die sich auf die Regierungsverantwortung nach den kommenden Wahlen vorbereitet. Dass Religion politisch funktionalisiert wird ist nicht neu. Das ist also noch keine ausreichende Erklärung für das Verhalten der Fußballer.

Religionswissenschaftliche Theorien gehen von einer fundamentalen Differenz zwischen privater und öffentlicher Religion aus. Während jene vom Individuum selbst und allein zu verantworten ist, wird diese als System jener Regeln und Rituale verstanden, die in einer Gesellschaft den Bereich jenseits des Machbaren betreffen und nicht zur Disposition der einzelnen stehen. Etwas pauschal gesagt: Die Frömmigkeit des autonomen Individuums steht gegen die verordnete Religionspraxis von Kirchen.

Warum wird öffentliches Beten als peinlich empfunden? Ich vermute, dass hier historische Erfahrungen die Einstellung bis heute prägen: Im europäischen Kontext war die öffentliche Ausübung autonomer privater Religion ohne Erlaubnis der Kirche jahrhundertelang gefährlich. Nicht selten war die Folge Ausweisung oder Transmigration. Friedrich Heer hat gemeint, dass dies die religiöse Einstellung der Österreicher und Österreicherinnen bestimmt. Würden sie aus eigenen Stücken öffentlich beten, fühlten sie sich wahrscheinlich bei einem verbotenen Tun erwischt.

Der Autor ist Oberkirchenrat der Evangel. Kirche A.B. in Österreich

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