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Joachim Gauck über das verloren gegangene Gefühl der ehemaligen DDR-Bürger für die Freiheit, die mangelnde Auseinandersetzung der Deutschen mit der eigenen Vergangenheit und die Herausforderung der zeitgeschichtlichen Aufarbeitung der Vergangenheit durch die demokratischen Institutionen der Bundesrepublik – vor allem durch den Bundestag. Das Gespräch führte Constantin Graf von Hoensbroech

Den einen galt er als schonungsloser Aufarbeiter der deutsch-deutschen Vergangenheit, den anderen als Inquisitor einer zu verdrängenden Zeit. In den zehn Jahren, in denen Joachim Gauck der Behörde zur Aufarbeitung der Stasi-Akten vorstand, enttarnte Gauck hunderte ehemalige Informanten des ostdeutschen Staatssicherheitsdienstes.

Die Furche: Der sorglose Umgang mit der zweiten deutschen Diktatur erinnert mich an den Ausspruch von Joseph Wulf, einen längst verstorbenen Auschwitz-Überlebenden: „Ich habe hier 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht, und das alles hatte keine Wirkung. Du kannst dich bei den Deutschen totdokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen.“

Joachim Gauck: Dieses Zitat ist sehr treffend, weil es ein sehr wichtiges Phänomen wiedergibt, das mich selbst jahrelang ratlos gemacht hat: Die Aufarbeitung der Vergangenheit, besonders die mit Schuld behaftete, findet nicht als ein kathartischer Prozess statt. In der Regel stehen zwei Sichtweisen und Traditionen, nämlich die der Opfer und die der Täter, nebeneinander. Die Opfer wissen um die kriminelle Energie einer Diktatur und nennen eine Diktatur Diktatur. Bei den Tätern und vielen Mitläufern werden erstmal die Fakten in Frage gestellt oder geleugnet, die Motive geschönt und mit Sprüchen wie, Wenn das der Führer oder Stalin oder Honecker gewusst hätte‘ wird Unrecht relativiert. Erst im nächsten Schritt werden Fakten dann nicht mehr geleugnet und es kommt nach und nach zu einer Wiedergewinnung und Anerkennung von geschichtlicher Realität. Erst im dritten Schritt erfolgt schließlich die wirkliche Annahme von Schuld, die Akzeptanz eigener Schuld. Und wenn das geschieht, wenn Scham und Trauer zugelassen werden, hat ein kathartischer Prozess eingesetzt – spät in der Regel. Diese Abfolge von verschiedenen Schritten ist in einem Großteil der ostdeutschen Gesellschaft längst noch nicht abgeschlossen.

Die Furche: Warum nicht?

Gauck: Da befinden sich viele noch in einem Denken wie in der alten Bundesrepublik Deutschland vor 1968. Es gibt im Osten ein Erinnern ohne Schmerzen, ein selektives Erinnern an die Kindergärten, an Vollbeschäftigung und andere Errungenschaften. Und schmerzhafte Erinnerungen wie beispielsweise die Beugung von Grund- und Menschenrechten, staatliches Unrecht, die nicht vorhandene Gewaltenteilung oder das Fehlen freier Gewerkschaften finden sich nur bei einem Teil der ostdeutschen Gesellschaft.

Die Furche: Was meinen Sie mit der alten Bundesrepublik bis 1968?

Gauck: Man darf die 68er nicht idealisieren, aber auch nicht dämonisieren. In erster Linie sind es die Söhne und Töchter einer Generation, die die Frage nach der Schuld am und im Nationalsozialismus nicht gestellt hat und bewusst nicht stellen wollte. Wenn es ein Verdienst der 68er gibt, dann womöglich dieses, dass sie die Schuldfrage dauerhaft auf die politische Agenda gesetzt haben. Das hat die politische Kultur und den gesellschaftlichen Diskurs völlig verändert und auch zu einem Sinneswandel geführt. Die Nation hat sich dadurch nicht verloren, sondern sie hat sich im Verhältnis zu ihren Nachbarn und auch zu sich selbst gestärkt. Wenn es im Johannes-Evangelium heißt: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen “, so gilt das im politischen und zwischenmenschlichen Bereich genau so wie im religiösen.

Die Furche: Bezogen auf die Wendezeit 1989/90: Hat damals die Aufarbeitung der Vergangenheit schneller eingesetzt?

Gauck: Der Schlussstrich, den viele in der Adenauer-Ära gern unter die NS-Zeit gezogen hätten, ist durch 1968 nicht gezogen worden. Das ist meines Erachtens auch ein entscheidender Grund dafür, dass nach 1989 unter die DDR-Vergangenheit auch kein Schlussstrich gezogen wurde und der Prozess der Aufarbeitung rasch eingeleitet worden ist. Daher muss auch die weitere Zugänglichkeit der Stasi-Akten in jedem Fall in der bewährten Form gewährleistet bleiben.

Die Furche: Gleichwohl: Der Deutsche Bundestag hat sich dieser Tage mit überwältigender Mehrheit dagegen ausgesprochen, alle Abgeordneten seit 1949 auf eine mögliche Stasi-Verstrickung überprüfen zu lassen. Das riecht nach Schlussstrich….

Gauck: Wenn eine Institution für Offenheit stehen sollte, dann unser Parlament. Es gab so viele Einfallstore der antidemokratischen Macht in die westliche Gesellschaft. Warum wollen wir das nicht besprechen?

Die Furche: Hat der ehemalige Polizist und nun als Mitarbeiter der Stasi enttarnte Karl-Heinz Kurras Benno Ohnesorge im Jahr 1967 im Auftrag der Stasi erschossen?

Gauck: Natürlich war die SED immer daran interessiert, die Bundesrepublik zu destabilisieren, aber diese Aktion wäre zu abenteuerlich gewesen, um von der Stasi inszeniert zu werden.

Die Furche: Welche Rolle messen Sie eigentlich, zumal als aus der Sicht eines evangelischen Pfarrers, den beiden großen christlichen Kirchen in diesem zeitgeschichtlichen deutsch-deutschen Erinnerungsgefüge zu?

Gauck: Zunächst werden sie tun, wozu sie gerufen sind: den Menschen die Glaubensinhalte und die Nächstenliebe nahe bringen. So können sie Menschen davor bewahren, falsche Götter anzubeten. Wer glaubt, kann leichter einen Kern entwickeln, aus dem Widerstand erwächst. Außerdem können sie dazu beitragen, im vorpolitischen Raum die Beziehung und Begabung des Individuums zur Freiheit zu intensivieren. Dazu kann ich mit meinem Selbstverständnis als Pfarrer beitragen: Ich habe 50 Jahre lang unter Diktatoren gelebt und das ist seit 1989 vorbei; ich bin glücklich und meinem Gott dankbar, dass ich in Freiheit leben darf.

Die Furche: Der Umgang mit Freiheit scheint im Westen viel zu selbstverständlich und im Osten entsteht mitunter der Eindruck, dass man sich vor der Freiheit fürchtet.

Gauck: Der große Reiz der Freiheit ist dort verflogen. Wir sind aus dem Raum der Sehnsucht herausgetreten und in der Realität angekommen. Bedenken Sie auch: Die Ostdeutschen hatten in Sachen Freiheit schlechtere Trainingsbedingungen. Es darf aber nicht sein, dass das Spiel mit Ängsten und Sorgen die positive Beziehung zu Freiheit so verstellt, dass nunmehr die Frage der Sicherheit oder die Sorge um die persönliche Existenz auf möglichst hohem ökonomischem Niveau im Zentrum steht.

Die Furche: Ist es dieses Plädoyer für die Freiheit, die dem 9. November 1989 seine historische Bedeutung verleiht?

Gauck: Der eigentliche Kulminationspunkt ist der 7. und 9. Oktober 1989 mit den Demonstrationen in Plauen und Leipzig. Der Freiheitswille vom Oktober, sein kraftvolles Motto ‚Wir sind das Volk‘, die Tatsache, dass aus Untertanen plötzlich Bürger geworden sind, all das lässt die Mauer fallen. Das ist ein unglaubliches Geschenk der Ostdeutschen an die ganze Nation. Weil wir die Freiheit errungen haben, sind wir geeint und machen Unmögliches wie die Wiedervereinigung oder das Verschwinden der Machtblöcke möglich. Daran muss immer wieder erinnert werden.

Die Furche: Ist DDR-Nostalgie eine Gefahr für die Demokratie?

Gauck: Aber selbstverständlich. Ostalgie verringert all das, was unsere Demokratie ausmacht. Durch selektives Erinnern, Bagatellisieren und Leugnen droht die politische Urteilsfähigkeit bei der grundsätzlichen Unterscheidung von Diktatur und Demokratie verloren zu gehen.

Die Furche: „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ heißt der Verein, dem Sie vorsitzen. Eigentlich ein schönes Anliegen, und doch stimmt es sehr nachdenklich, dass es in der 60 Jahre alten Bundesrepublik einen solchen Verein geben muss.

Gauck: Natürlich wäre es schön, wenn wir unseren Zweck so weit erreichen würden, dass wir den Verein auflösen können. Aber bleiben wir Realisten. Es bleibt eine dauernde Aufgabe aller entschlossenen Demokraten, wie es eben die Vereinsgründer sind, auf jede Art von Diktatur zu reagieren und unseren Beitrag vor allem zur Aufarbeitung der beiden deutschen Diktaturen zu leisten.

Joachim Gauck war von 1990 bis zum Jahr 2000 Sonderbeauftragter für die personenbezogenen Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Heute ist Gauck nach Eigendefinition „Politiklehrer und Vortragsreisender in Sachen Erinnerung“.

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