Gegen die Berührungsängste

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Rund 330.200 ethnische Russen wohnen derzeit in Estland, viele sprechen nur Russisch. Oft haben sie es immer noch schwer, im EU-Land Anschluss zu finden.

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Rund 330.200 ethnische Russen wohnen derzeit in Estland, viele sprechen nur Russisch. Oft haben sie es immer noch schwer, im EU-Land Anschluss zu finden.

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Auf der einen Seite sind sie Estländer, auf der anderen Seite sind sie eng mit Russland verbunden: Rund 330.200 Mitglieder zählt die Minderheit der ethnischen Russen in Estland; sie stellen fast ein Drittel der Bevölkerung. Im Alltag sind sie mit Integrationsschwierigkeiten und Identitätsproblemen konfrontiert. Denn die russische Kultur haben sich die meisten bewahrt: Viele sprechen nur Russisch, besuchen russische Schulen und leben in Städten mit großem russischem Bevölkerungsanteil -etwa in der Grenzstadt Narva oder in der Hauptstadt Tallinn. Trotz versuchter Beeinflussung aus Russland sehen die meisten in Estland ihre Heimat.

Fast 80.000 Staatenlose

Die russischsprachige Minderheit hat ihren Ursprung in Sowjetzeiten. Im Prozess der "Russifizierung" siedelte die sowjetische Regierung Russen außerhalb Russlands an, um das Nationalbewusstsein in den annektierten Ländern zu brechen -so auch in Estland. Nachdem Estland 1991 die Unabhängigkeit wiedergewonnen hatte, kehrten viele Zuwanderer nicht nach Russland zurück. Mit NATO-und EU-Mitgliedschaft sowie der Annahme des Euros wandte sich Estland gen Westen und drehte Russland und seiner sowjetischen Vergangenheit den Rücken zu. Für die ethnischen Russen hatte dieser Prozess Nachteile: Nur Personen, die vor der Sowjet-Zeit Estländer waren, erhielten die estnische Staatsbürgerschaft.

Als Resultat gibt es neben ethnischen Russen mit estnischem und russischem Pass auch solche, die in einer Grauzone leben als Staatenlose mit grauem Pass. 79.300 Staatenlose gab es laut "Human Rights Watch" Anfang 2016. Geht es um Identitätsbildung und die Bindung an Estland, kann ein solcher Pass sehr hinderlich sein. Viele ethnische Russen versuchen deshalb, die estnische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Doch auch das ist nicht einfach; denn dafür ist das Beherrschen der estnischen Sprache -die mit dem Russischen nicht verwandt ist -Pflicht.

Doch auch Russland mischt sich in die Angelegenheiten der ethnischen Russen ein. Es gibt Bemühungen, "Landsleute" auf Grundlage ihrer Sprache und kulturellen Identität an Russland zu binden, und sie dorthin zurückzuholen. Allerdings bis dato wenig erfolgreich: Von 2008 bis 2012 emigrierten mehr Russen nach Estland als umgekehrt. Die Lebensqualität Estlands liegt deutlich über der Russlands. Studien des estnischen Kulturministeriums ergaben, dass 65 Prozent der ethnischen Russen nichts von den Versuchen wissen, sie an Russland zu binden. Außerdem glauben die meisten von ihnen nicht daran, dass Russland in ihrem Sinne handelt. Hingegen sehen sie sich zwar durch Sprache und Kultur mit Russland verbunden, die meisten sehen in Estland aber ihr einziges Heimatland.

Um die Abschottung der Minderheit zu verhindern, wendet das Kulturministerium bis 2020 42,5 Millionen Euro für den Plan "Integrating Estonia 2020" auf. Soziale Inklusion von Anderssprachigen soll verbessert werden, die verschiedenen Kulturen sollen erhalten bleiben. Vor Kurzem wurde außerdem die Einbürgerung von staatenlosen Kindern erleichtert. Heute könne man, laut Imbi Sooman -Präsidentin der Österreichisch-Estnischen Gesellschaft -, nicht mehr von kollektiver Abschottung sprechen.

Integration durch das Fernsehen

Vor allem die jungen Leute seien gut integriert. In der Politik könne man das beobachten: "Die Parteienlandschaft wird nicht mehr nach ethnischen Kriterien bestimmt", meint sie. Ethnische Russen finden sich nicht nur in der Zentrumspartei. Auch im Bildungsbereich sei einiges passiert: An der Universität von Tallinn könnten Russischsprachige nun studieren und gleichzeitig ihr Estnisch aufbessern.

Im Fernsehen wird die russischsprachige Bevölkerung derzeit mehrheitlich von russischen, Kreml-treuen Sendern erreicht. Um dem Einfluss Russlands auf die Minderheit entgegenzuwirken, wurde der öffentlich-rechtliche Sender ETV+ etabliert, der sich auf Estland konzentriert und auf Russisch sendet. Die Einschaltquoten blieben allerdings gering.

Doch wie könnte man die russisch-sprachige Bevölkerung noch besser integrieren? Sooman sieht bei kulturellen Aspekten Nachholbedarf. "Man könnte beispielsweise bei den großen Liederfestivals ein paar russische Lieder singen und russische Volkstänze tanzen", schlägt sie vor. Es sei wichtig, diese Feste für alle Estländer zu feiern, nicht nur für die ethnischen Esten. "Die jüngere Generation hat keine Berührungsängste", ist sie sich sicher. Die EU-Ratspräsidentschaft könne Estland zum Anlass nehmen, um noch konkretere Schritte in Richtung Integration zu setzen.

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