GEIST erfüllte Orte

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"Fresh expressions of church" bezeichnen über 2000 Initiativen in Großbritannien. Vernichtende Prognosen zur anglikanischen Kirche erforderten nicht nur neuen Wein, sondern auch neue Schläuche.

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"Fresh expressions of church" bezeichnen über 2000 Initiativen in Großbritannien. Vernichtende Prognosen zur anglikanischen Kirche erforderten nicht nur neuen Wein, sondern auch neue Schläuche.

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Der Leidensdruck war offensichtlich groß genug, um Neuem ernsthaft und entschlossen Raum zu geben. Die Fresh expressions begannen in Großbritannien als Basis initiative einiger engagierter Pas toren, Laien und Theo logen -und beeindruckten auch die Hierarchie. Unter der Leitung des anglikanischen Primas Rowan Williams (2002-12) kam es offiziell zum Schwerpunkt Mission shaped church (missionsgeprägte Kirche). Williams prägte den Begriff Mixed economy, um alte und neue Formen zu würdigen und beiden Raum zu geben. Unter der fachkundigen Begleitung renommierter Theologen wie dem in Oxford lehrenden Michael Moynagh wurden klare Kriterien und theologische Grundlagen für die neuen Ausdrucksformen von Kirche erarbeitet. Erfahrungen mit neuen Aufbrüchen und Erkenntnisse aus dem Change management in der Organisationsentwicklung wurden integriert. Ein landesweites Team entwickelt kontinuierlich Grundlagen, Fortbildungen und Unterstützungen für alle Fresh expressions bzw. deren Gründer und Gründerinnen. Partnerschaften und Kooperationen sind entstanden, etwa mit den Methodisten, der Church of Scotland und weiteren Kirchen. Zur katholischen Kirche gibt es erste Kontakte, auch in Deutschland und Österreich.

Skatende Jugendliche, gestresste Manager

Hauptzielgruppe von Fresh expressions sind Menschen, die bislang gar nicht oder kaum mehr mit der Kirche in Berührung sind. Indem ernsthaft und glaubwürdig auf deren Lebenssituationen eingegangen wird, entstehen für sie passende, neue Formen von Gemeinschaften. Ungewöhnliche Zugänge, Orte oder Zeiten sind Folge dieser "Treue zum Menschen". Skatende Jugendliche, gestresste Manager oder selbstständige Unternehmerinnen können einfach mit der Zehn-Uhr-Messe, der alternden Frauenrunde oder dem klassischen Kirchenchor weder zeitlich noch kulturell etwas anfangen. Jesus meint auch sie, wenn er sagt: Geht hinaus, verkündet die frohe Botschaft allen Menschen und macht sie zu meinen Jüngern. Skaterparks, Kaffeehäuser oder Bürogebäude werden vom Geist erfüllte Orte. In der nordenglischen Stadt Sheffield entwickelten sich viele Fresh expressions ursprünglich aus einer Pfarre heraus. Doch neuer Wein in alten Schläuchen verursachte viele Konflikte. So entstanden in einem ehemaligen Industriegelände unterschiedliche Initiativen im spirituellen und sozialen Bereich. Junge Erwachsene bringen sich mit ihren Talenten ein, unabhängig von den engen Grenzen einer klassischen Territorialgemeinde. Ganz neu: Die anglikanische Kirche startet eine spezielle Ausbildung von Pioneer priests, um Berufungen Raum zu geben, die aus solchen Initiativen erwachsen.

Dieser Fokus auf "neue Schläuche" unterscheidet Fresh expressions von anderen neuen Phänomenen wie etwa den überkonfessionellen Emerging churches oder den Multisite churches mit ihren über Satelliten-TV übertragenen Gottesdiensten.

Michael Moynagh warnt trotz der Erfolge vor Euphorie. Es gäbe auch Probleme organisatorischer, kultureller und theologischer Natur. Das Neue befinde sich in der ersten Generation, man müsse daher die Entwicklung genau beobachten, begleiten und wo möglich behutsam steuern. Zentral sei die Frage, wie bei so viel Unterschiedlichkeit und Pluralität das Bewusstsein der "einen" Kirche gestärkt werden könne. Wie verändert sich zudem das Selbstverständnis von Kirche durch die Fresh expressions? Die Mixed economy hat Türen geöffnet. Spannend bleibt, wer und was nun alles eintritt.

Vier Kriterien für die "Fresh expressions"

Vergleichbare Initiativen gab es weltweit immer wieder. Viele verschwanden allerdings in Schubladen oder scheiterten nach ersten Versuchen. Im Unterschied dazu lässt sich bei den Fresh expressions messbarer Erfolg feststellen. Aus Absichten wurden Konzepte, aus Konzepten Projekte, aus Einzelprojekten eine gemeinsame pastorale Marke, die nun konsequent weiterentwickelt wird. Publikationen und Videos vermitteln lebhafte Eindrücke, Vision-Days begeistern und bilden Vertrauen, standardisierte Ausbildungskurse erreichen Tausende Engagierte in mittlerweile mehr als 20 Ländern. Netzwerke mit Geschwisterinitiativen stärken den gemeinsamen Willen, neue "Bäume zu pflanzen mit guten Früchten" für Menschen von heute.

Kriterien für Fresh expressions als neue Formen kirchlicher Gemeinschaften sind:

* missional - sie erreichen Menschen mit der christlichen Botschaft, die sich nicht der Kirche zugehörig fühlen. Verkündigung in zeitgemäßer Form ist so ein essenzielles Kennzeichen.

* contextual - sie praktizieren Inkulturation in den Lebenswelten dieser Menschen. Es geht nicht vorrangig um Integration in klassische Sozialformen wie etwa eine Pfarre oder Vereine.

* formational - sie streben "Jüngerschaft" an. Christen sollen nicht Konsumenten kirchlicher Angebote sein, sondern Wirtschafter der von Gott gegebenen Talente.

* ecclesial - sie wollen Kirche werden. Eine gute Gemeinschaft allein reicht nicht aus.

Diese Unterscheidung dient der Abgrenzung von anderen, ebenfalls wertvollen Aufbrüchen. Sie will die vielfältigen neuen und teils chaotischen Phänomene fokussieren: Wie kann eine vormals starke Volks-bzw. Staatskirche in einem dramatisch säkularisierten Kontext tatsächlich alle Menschen erreichen? Michael Moynagh: Nur wenn es für den neuen Wein auch neue Schläuche gibt.

Der soziologische Befund einer milieuverengten Kirche (Michael Ebertz) und die theologische Orientierung des II. Vatikanischen Konzils (etwa in "Gaudium et Spes") hat auch im deutschsprachigen Raum zu neuen Aufbrüchen geführt. Man denke an die vielen Initiativen, die heute unter dem Begriff "kategoriale Seelsorge" zusammengefasst werden. Auch im Bereich der Orden und geistlichen Gemeinschaften entstanden oft unterschätzte neue Modelle. Manches davon ist im Treibsand von Veränderungsresistenz versickert oder hat sich als Sackgasse erwiesen.

Der Trend bleibt besorgniserregend

Trotz punktueller Ideen und Konzepten lässt sich hierzulande bisher allerdings kaum eine übergreifende und koordinierte Strategie für "neue Schläuche" feststellen. Daher könnte ein ökumenischer Dialog mit den Verantwortlichen der Fresh expressions in der anglikanischen Kirche Sinn machen.

Denn auch im deutschsprachigen Raum ist der Gesamttrend besorgniserregend. Zentrale Ergebnisse vieler Studien sollten bei allen Kirchen die Alarmglocken klingeln lassen und konsequent zu koordiniertem Vorgehen motivieren. Negativtrends betreffen nahezu alle Diözesen, Orden oder kirchlichen Institutionen. Massiver Vertrauensverlust bei ganzen Bevölkerungsgruppen wie jungen Erwachsenen, hochgebildeten Frauen oder Unternehmern, eklatante Rekrutierungsprobleme bei Haupt- und Ehrenamtlichen, fehlende Qualitätsstandards bei den "Basics" der Seelsorge und bedrohliche Rückgänge in Kernsegmenten kirchlicher Pastoral sind durchgängig beobachtbar. Neue Wege sind gefragt, die Kühnheit erfordern.

Die deutschsprachige Regionalkirche ist im globalen Vergleich reich und verliert dennoch an Bedeutung. Viele Bäume (= Organisationen), aber wenige Früchte (= Wirkungen), könnte eine Kurzanalyse lauten. Diese scheint vielen beeindruckenden Einzelinitiativen Unrecht zu tun, trifft aber zu, wenn man den binnenkirchlichen Horizont öffnet hin auf die Megatrends der Gesellschaft.

Der Autor ist Theologe und Gründer der Initiative "Pastoralinnovation" und forscht mit Blick auf innovative Ansätze in Kirchen

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