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Von der Notwendigkeit gemeinschaftlicher Wertbindung, der Rückholung von Verantwortung und der Überwindung von Kurzsichtigkeit, Schwerhörigkeit und Geschmacklosigkeit: Skizzen zu einem zeitgemäßen Eliten-Begriff. von erhard busek

Unsere Zeit ist reich an Umbrüchen, positiven wie negativen. Das, was gestern noch aktuell war, ist heute bereits überholt und wird morgen vielleicht als veraltet angesehen. In positiver Hinsicht bringen uns diese Jahre einen Erfolg für die Freiheit: eine Freiheit von totalitären Systemen, die das Kollektiv über das Individuum gestellt haben, eine Freiheit zu sich selbst. Negativ betrachtet aber kommen durch den Untergang des Realsozialismus bereits totgeglaubte Nationalismen zum Vorschein, andere Formen einer kollektivistischen Ideologie also, welche die Verwirklichung eines ethisch fundierten Menschenbildes bedrohen.

Überdies gibt es auch den Neoliberalismus, der wohl besser mit "Egoismus" beschrieben ist und zweifellos die Qualität hat, gemeinschaftliches Denken und Gemeinschaftsorientierung zu vernachlässigen. Der Kommunitarismus hat dem gegengesteuert, wenngleich er sich offensichtlich nicht durchgesetzt hat. Mir fällt das Wort von Solidarno´s´c, das auf Jozef Tischner zurückgeht, ein: "Dem Menschen die Würde wiedergeben." Dazu braucht es nicht nur die Sehnsucht nach Werten, sondern auch Menschen, die das vermitteln können.

Knappes Gut Solidarität

Um diese Werte zu bewahren, müssen wir von veralteten Denkmustern, politischen Klischees, vor allem von bezirzenden Ideologien Abstand nehmen. Denn die Ideologie ist die Kollektivierung der Idee für die Masse. In ihr hat ein Individuum - in der Terminologie der katholischen Soziallehre: eine Person - keinen Platz.

Wenn wir die großen Herausforderungen und Probleme der Gegenwart tatsächlich lösen und uns nicht auf rhetorische Übungen beschränken wollen, müssen wir uns darauf besinnen, was die Gemeinschaft unserer Gesellschaft lebendig macht und zusammenhält. Wir müssen uns wieder darauf verständigen, wer wir sind, um zu wissen, was wir wollen. Die Frage nach der Lebensfähigkeit der demokratischen Institutionen, nach der sozialen Gerechtigkeit im modernen Wohlfahrtsstaat, nach der kulturellen Identität sind längst zu Fragen der gemeinschaftlich geteilten Werte geworden. Solidarität ist ein knappes Gut. Es eignet sich daher nicht zur Verstaatlichung. Dass der Wohlfahrtsstaat in seiner jetzigen Form an seine finanziellen Grenzen stößt, liegt daran, dass er zunehmend die Ressourcen der gesellschaftlichen Solidarität und das Bewusstsein der Werte untergräbt. Alles deutet darauf hin, dass wir die Fragen nach dem zukünftigen Zusammenleben der Menschen nur dann beantworten können, wenn sich die Menschen ihrer Verantwortung für das Gemeinwohl wieder bewusst werden. Dabei müssen wir nicht allein auf die Mittel der Sozialbürokratie setzen, sondern mindestens genauso dringend auf die Erfahrungen, Fähigkeiten und den guten Willen der Menschen. Die Menschen sind heute selbstbewusster und emanzipierter geworden, ihre "sozialen Leidenschaften" finden aber kaum noch zeitgemäße Orte, wo sie sich entfalten können. Wir müssen daher darüber nachdenken, wie individuelles Selbstbewusstsein und Gemeinsinn zusammengehen, welches Maß an gemeinschaftlicher Wertbindung in einer individualisierten Gesellschaft notwendig ist, damit die freiheitsverbürgenden Institutionen unserer Demokratie am Leben erhalten werden können.

Wir nehmen die Mahnung Simone Weils, die vieles der Totalitarismustheorie von Hannah Arendt vorwegnimmt, sehr ernst, wenn sie schreibt: "Die Entwurzelung ist bei weitem die gefährlichste Krankheit der menschlichen Gesellschaft, weil sie sich selbst vervielfältigt. Einmal wirklich entwurzelte Menschen haben kaum mehr als zwei Möglichkeiten, wie sie sich hinfort betragen sollen: entweder sie verfallen einer seelischen Trägheit, die fast dem Tode gleichkommt, oder sie stürzen sich in eine hemmungslose Aktivität, die immer bestrebt ist, und häufig mit den Methoden äußerster Gewaltanwendung, auch diejenigen zu entwurzeln, die es noch nicht oder erst teilweise sind."

Repolitisierung von Heimat

Die Repolitisierung von Heimat zähle ich daher zu den wichtigen Aufgaben der Politik, die einen Sitz im Leben hat. Weil sich Politik daran zu orientieren hat, was dem einzelnen Menschen und den Gemeinschaften ein Zuhause sichern kann. Ethik vermittelt uns Identität und Geborgenheit. Im tiefsten Sinn des Begriffs geht es um das demokratische, freie und friedliche Zusammenleben der Menschen, das sich an einer gemeinsamen Kultur, gemeinsamen Werten und gemeinsamen Zielen orientieren muss. Es geht um einen sozial übergreifenden Wertzusammenhang, der einerseits durch eine neue Form der Solidarität den destruktiven Tendenzen des sich weit aufsplitternden Egoismus entgegenwirkt, ohne andererseits aber dem notwendigen Pluralismus in einer liberalen Gesellschaft zuwiderzulaufen.

Wohl unbestritten ist, dass Demokratien auf die kulturelle Voraussetzung einer demokratischen Sittlichkeit angewiesen sind. Die vielen verschiedenen Meinungen lassen sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zusammenfassen, dass nur dort, wo die Bürger eines Gemeinwesens sich an dessen freiheitssichernde Einrichtungen als ein kollektives Gut gebunden fühlen, sie in der Lage sind, sich aktiv an der politischen Willensbildung zu beteiligen.

Alles spitzt sich also auf den einen zentralen Satz zu, den wir Karin Brandauer verdanken: "Wo Bindung ist, ist Verantwortung." "Verantwortung" enthält eine Antwort an ein Gegenüber, mit dem ich im Grundsätzlichen in irgendeiner Weise verbunden sein muss, sonst könnte ich ihm ja keine verstehbare Antwort geben. Das ist ein Element. Das zweite folgt aus dieser Verbundenheit und ist daher das Element der Verbindlichkeit.

Damit ergibt sich klar die Interpretation von "Elite". Sie heißt: Verantwortung übernehmen. Was sind im Gegensatz dazu die Eliten von heute? Etwa im ökonomischen Bereich die Manager, im Medienbereich die Mundwerksburschen, die Seitenblicker und Adabeis, eine neue Intelligenz, die sich besser dünkt als die anderen oder aber auch jene einsamen Wölfe, deren mangelnde Sozialisierung allein schon eine Problematik darstellt.

Wir kennen vielerlei Arten des Abschiebens der Verantwortung: von der Person in die Anonymität, vom Einzelnen zur Gruppe, von der Familie in die Schule, vom privaten Bereich hin zum Staat; von der niedrigeren Ebene auf die jeweils nächsthöhere und so weiter. Und wenn sich niemand mehr findet, auf den man die Verantwortung abschieben kann, dann schiebt man sie weiter an die nächste Generation. Dieses Spiel, sich möglichst in die Unverantwortlichkeit abzusetzen, wurde durch die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte durchaus noch gefördert.

Anästhetik der Kirche

Wir müssen genau den umgekehrten Weg einschlagen, um voranzukommen. Wir müssen die abgeschobenen Verantwortungen wieder zu uns selbst zurückholen. Zuallererst müssen wir die Selbstverantwortung wieder stärken. Jeder mündige Mensch ist zunächst für sich selbst und vor sich selbst verantwortlich: für sein Leben, für seine Gesundheit, für seine Vorsorge, für sein Tun und für die Ergebnisse seines Handelns.

Was haben aber echte Eliten zu beachten? Sind sie dem Zeitgeist oder dem Geist der Zeit verpflichtet?

Dem Zeitgeist entspricht es, den Inhalt durch Verpackung zu ersetzen. Wir leben im Zeitalter des Design, der Seitenblickegesellschaft, eines falschen Ästhetizismus, wo entscheidend ist, wie etwas aussieht. Werbung ersetzt den Inhalt, Kleidung die Politik, die Aufmachung den Wert einer Sache. Dem Christen fällt das Wort der Schrift ein, dass der Glaube vom Hören kommt, sicher aber nicht vom Schauen.

Das Sprachproblem stellt sich viel grundsätzlicher, nämlich in der Weise, dass die Kirche ihre ureigenste Sprache, die Sprache des Heiligen, der prophetischen Botschaft und Verheißung, nicht mehr sprechen kann - oder nicht mehr sprechen will. "Ein Zeichen sind wir, deutungslos / schmerzlos sind wir und haben fast / die Sprache in der Fremde verloren", so dichtete Hölderlin über die aus der Gottes- und Weltgewissheit gefallene Menschheit am Anfang der Moderne. Die Verse scheinen heute im besonderen Maße die Situation von Christentum und Kirche, aber auch der Welt zu treffen: ein Zeichen, das sich nicht mehr deutet, nicht mehr weiß, wofür es steht; empfindungslos, anästhesiert, sprachlos geworden im Exil eines fremden Idiom, das es sich nur schwer aneignen kann.

Für mich ist die Parabel des Geistes in der Welt, der Schöpfung Gottes mit dem Turmbau von Babel und dem Pfingstwunder geschrieben. In der Überhebung über Gott, im irdischen Werk haben wir die Sprache füreinander verloren, während der Geist im Pfingstwunder bewirkt, dass die Apostel von allen Menschen in ihrer je eigenen Sprache verstanden werden, dass also dieser Geist weht, wo er will. Die Kirche muss ihn nicht aus sich selbst kreieren, sie muss nur vertrauensvoll ihr "veni creator spiritus" rufen. Sie muss freilich sich diesem Geist auch öffnen, wenn er ihr wieder feurige Zungen verleihen soll. Diesen schöpferischen Geist wird man nicht nur im kognitiven Wissen, im abstrakten Denken und in theoretischer Reflexion finden. Sich dem Geist zu öffnen, heißt vor allem die Sinne zu schärfen, die anerzogene Kurzsichtigkeit, Schwerhörigkeit und Geschmacklosigkeit zu überwinden. Registriert denn die Kirche überhaupt das, was in Kunst, Literatur und Musik geschaffen wird? Nimmt sie davon irgend etwas zumindest zur Kenntnis, geschweige denn wahr?

"Betteln um den Geist"

Geistige und geistliche Menschen (das müssen nicht Priester sein) müssen heute mehr denn je unermüdlich dem Geist auf der Spur sein, sich von ihm stellen lassen. Wie lautet die erste Seligpreisung wirklich? Die katholisch-evangelische Einheitsübersetzung der deutschsprachigen Kirchen führt mit "Selig, die arm sind vor Gott" genauso in die Irre, wie die frühere Übersetzung "Selig die Armen im Geiste". Das Wort "arm" gibt den eigentlichen Sinn des griechischen Wortes "ptochoi" nur sehr mangelhaft wieder. Es heißt nämlich nicht bloß "arm" und schon gar nicht "bedürfnislos", sondern eigentlich meint es "betteln um etwas", "bedürftig sein". So verstanden, wäre die erste Seligpreisung demnach keineswegs ein Lob der geistigen Armut, der Bescheidenheit, der Bedürfnislosigkeit, sondern fast im Gegenteil ein Lob derer, "die um Geist betteln", "die Bedürfnis nach Geist haben", die sich also nicht abfinden und abspeisen lassen mit der Geistlosigkeit, sondern von diesem Anspruch auf Geist nicht ablassen wollen.

Geist und Ordnung sind die entscheidenden Herausforderungen unserer Zeit. Es ist zu wünschen, dass wir diesen Anruf der Zeit verstehen. Gerade Menschen, die sich mit dem Glauben, aber auch mit dem Recht beschäftigen, haben dabei eine ganz besondere Rolle.

Der Text ist die stark gekürzte und redigierte Version eines Vortrags, den Erhard Busek unter dem Titel "Braucht Europa Eliten?" Mitte Oktober in der Grazer Katholischen Hochschulgemeinde im Rahmen eines Festaktes zum 60. Geburtstag des früheren Hochschulseelsorgers Msgr. Heinrich Schnuderl gehalten hat.

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