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Gelehrtheit oder Frömmigkeit?

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Dem interessierten, von der politischen Publizistik her etwas schablonenhaft informierten Beobachter, der in der historischen Vorstellung von dem gerade in der Orthodoxie par excellence verkörperten Staatskirchentum befangen und daher versucht ist, die scheinbare und faktische Koexistenzfreudigkeit der Ostkirche nun auch im Machtbereich des Kommunismus allein von dieser geschichtlichen Wurzel her zu begreifen, müssen sich zwangsläufig allerhand Fragezeichen aufdrängen, wenn er diese überkommenen Vorstellungen an Hand der zwar wesentlich eingeengten, dafür aber in ihrem Aussagewert zum Teil noch recht bedeutsamen theologischen Literatur im Satellitenbereich überprüft.

Nicht daß der faktische, im einzelnen oft nicht greifbare Einfluß des Staats- und Parteiapparats auf den kirchlich-religiösen Bereich bagatellisiert werden soll, nicht daß man übersehen wollte, wie geschickt und auf welchem verschlungenen Pfaden sich die Partei des Moskauer Patriarchen bedient, um die Entwicklung des kirchlichen Lebens auch in den einzelnen autokephalen Orthodoxien, die heute politisch zum kommunistischen Großreich gehören, in jene Bahnen zu lenken, die den Managern des Geschehens das verheißen, was sie sich als weltanschaulich-politisches oder auch nur als taktisches Ziel gesteckt hatten: hier im Westen ist man zuweilen aus einer mißverstandenen Katho-lizität heraus versucht — vielfach auch durch nationalistische Ressentiments beeinträchtigt, wie dies bei unseren Deutungsversuchen der serbischen Orthodoxie der Fall ist, weil wir hier in Vorstellungen befangen sind, die uns die näherliegenden katholischen Kroaten vermittelten — die Echtheit der religiösen Impulse zu verkennen oder überhaupt in Frage zu stellen, die als bestimmende Antriebskräfte allenthalben feststellbar sind, wo es darum geht, die bedrohte christliche Substanz, wenn schon nicht zu mehren, so doch wenigstens zu wahren. Die Probleme sind so vielschichtig, daß man mit Hinweisen auf billige politische Koexistenzparolen die tieferliegenden eigentlichen Triebkräfte nicht bloßlegen kann, was nachstehend an der Situation der rumänischen Orthodoxie andeutungsweise erörtert werden soll.

Daß die rumänische Orthodoxie ehrlich bemüht ist, die Konzessionsbereitschaft, zu der sie sich ab 1945 dem Regime gegenüber zunehmend veranlaßt sah, vor dem eigenen Gewissen und vor dem gläubigen Volk zu begründen, darf vorausgesetzt werden. Es geht auch der rumänischen Orthodoxie — 14 Millionen Gläubige, 12.000 Priester, 7000 Mönche und Schwestern in 200 Klöstern — im klaren Bewußtsein der theoretisch und praktisch antireligiösen Einstellung des marxistischen Staates letzten Endes um ein in den Rahmen des „Sozialismus“ einbaubares Christentum, „ ohne Grundsätze preiszugeben. Man sollte den Ernst und die Aufrichtigkeit dieser Bemühungen nicht dadurch relativieren, daß man politisch als anrüchig empfundene Stellungnahmen des Patriarchen oder führender Kirchenmänner zitiert, ohne den Anlaß zu umschreiben, der dafür bestimmend war. Wenn man an Hand der meritcri-schen Stellungnahmen und Aussagen des Patriarchen Justinian in den letzten Jahren die theologische ostkirchliche Situation in Rumänien analysiert, wird man in der Annahme nicht fehlgehen, daß es sich innerkirchlich letzten Endes um eine Auseinandersetzung zwischen theologischer Wissenschaft und überkommener orthodoxer Spiritualität dreht, wobei die führenden Kirchenmänner nicht verhehlen, daß man den aus der scholastischen und dialektischen Theologie zugewachsenen Anschauungen abschwören müßte, und zwar so kompromißlos und konsequent, als ob es sich — um hier mit dem Patriarchen zu sprechen — um einen „Zustand der Sünde“ handelte.

Die echten christlichen Werte seien nicht nur durch das mißliebig eingestellte politische Regime bedroht. Die aus der bürgerlichen Mentalität heraus gedeutete theologische Fehlentwicklung — das amtliche Bulletin des Patriarchats „Biserica Ortodoxa Romana“ sprach 1954 unverhohlen von einer „Phrasendrescherei von mehr oder weniger systematisch dargebotenen Kenntnissen“ (Prof. J. C. C o m a n) —, die sich durch lebensfremde Abstraktionen und spekulative Begrifflichkeit abzeichne, lasse auch die Wurzeln einer gerade auch in der rumänischen Orthodoxie Jahrhunderte hindurch lebendig gebliebenen urchristlichen Frömmigkeit verdorren. Diese Besinnung auf tiefer verankerte religiöse Werte liegt zwar in der Bedrängnis begründet, die das feindselig eingestellte politische Regime auslöste, darf aber geistesgeschichtlich auch als Reaktion auf jene „Theologie der Weltfeindschaft“ der Orthodoxie aufgefaßt werden, die in dem östlichen Mystiker Simeon dem Jüngeren eine extreme Verkörperung fand, der Weltliebe mit Gottesfeindschaft und Welthaß mit Gottesliebe gleichsetzte.

Die aus der byzantinischen Reichskirche hervorgegangenen orthodoxen Kirchen verfügen im allgemeinen nicht über eine einheitliche, fest-umrissene Lehre über ihre Beziehungen zum Staat, was einerseits die Verwirrung erklären mag, die in der Hierarchie allenthalben feststellbar ist, wenn sie sich vor die Notwendigkeit gestellt sieht, den staatlichen Übergriffen über Fragen der Organisation hinaus zu begegnen, anderseits aber auch jene starken Impulse auslöst, die nur aus dem Bestreben heraus verständlich sind, die Bedrohung des überantworteten religiös-kirchlichen Bereiches durch einen konsequenten Gegner, dessen Kampfmittel über die nackte Gewalt hinaus aus einer Diesseitshaltung auch geistig klar und logisch entwickelt und machtmäßig eingesetzt werden, abzuwehren. Der in Dorfen bei München lebende exilrumänische Theologe Dr. Flavius Popam, dem wir eine erst kürzlich im Seelsorgeverlag Herder erschienene Analyse des religiösen Lebens und der theologischen Bewegung innerhalb der Orthodoxie im heutigen Rumänien verdanken, faßte erstmals in einem im Rahmen der Theologenwoche in Horn (Niederösterreich) gehaltenen Vortrag die theologischen Gesichtspunkte der orthodoxen Koexistenzpolitik zusammen. Seine Erkenntnisse vermitteln andeutungsweise etwas von der Vielschichtigkeit der Problematik, die einem mit billigen politischen Schlagworten abgefütterten westlichen Leserpublikum kaum bewußt ist.

Schon die Verhältnisse, denen sich die Kirche dem westlichen liberalen Staat des 19. Jahrhunderts gegenübersah, nötigten zu einer Art Koexistenzpolitik, die Tein theologisch-dogmatisch manche Inkonsequenz in sich trug.

Während die „These“ von einem katholischen Staat als unabdingbares Postulat katholischer Gläubigkeit aufgefaßt wurde, löst die Wirklichkeit des Staatsliberalismus jene Konflikte mit der Kirche aus, die zwangsläufig zur theologischen Sprachregelung einer Kirche als „Hypothese“ führten, das heißt, zur Definition einer wohl in der „lex aeterna“ begründeten, aber konkreten, nicht wegleugbaren Mächten des realen Staates preisgegebenen Institution. Vielleicht haben wir gerade in dieser Argumentation der katholischen Theologie des 19. Jahrhunderts, wie sie mit der im Begriffspaar „These-Hypothese“ eingefangenen Problematik aufleuchtet, den Schlüssel für die Deutung ähnlicher Vorgänge in der rumänischen Orthodoxie: Dr. Popan zieht die jahrhundertealte orthodoxe Praxis mit den Grundsätzen der „strengen Ordnung“ und der „kirchlichen Ökonomie“, wodurch es zum Beispiel in der kirchlichen Übung möglich ist, die nach dem Prinzip der „Ordnung“ grundsätzlich nicht gültige Spendung des Sakraments der Taufe durch andere christliche Konfessionen in der theologischen Praxis durch das Gesetz der „Ökonomie“ anzuerkennen, heran, um bewußt werden zu lassen, daß dem aus dem Bewußtsein des pneumatischen Charakters der Kirche lebenden Theologen im Spannungsfeld zwischen „Ordnung“ und „Ökonomie“ ein Weg geebnet scheint, der es ermöglicht, nicht nur vor Gott, vor seinem eigenen Gewissen und wohl auch vor dem gläubigen Volk, sondern auch theologisch-dogmatisch zu bestehen.

Ein zweiter Berührungspunkt, der von orthodoxer Schau her eine Koexistenz mit dem atheistischen Staat fördert, ist nach Dr. Popan dadurch gegeben, daß der marxistische Staat — theoretisch wenigstens — das Naturrecht bejaht und — wohl nach etwas eigenwilliger Auslegung — auch die Menschenrechte verteidigt. Natürlich hängt die Auslegung des Naturrechts wesentlich mit der Auffassung über die menschliche Natur zusammen: der Begriff von einer rein menschlichen Natur der Schöpfung existiert in der Orthodoxie nicht einmal hypothetisch; sie ist, historisch gesehen, entweder eine „gefallene“ oder „erlöste“ Natur, was auf jeden Fall eine religiöse Anschauung voraussetzt, während die marxistische Lehre die Idee von einer universellen menschlichen Natur grundsätzlich leugnet. Daß von einer solchen „illusorischen“ Diskussionsbasis eine Koexistenz zwischen Kirche und Staat dennoch denkbar ist, begründet Dr. Popan damit, daß der Kommunismus im augenblicklichen Stadium seiner dialektischen Entwicklung „von den Menschen bestimmte Eigenschaften und Tugenden verlangt, die mit Hilfe der christlichen Ethik eher eingepflanzt werden können“. Die letzte, ebenfalls theologisch begründete Möglichkeit der Koexistenz geht von der Auffassung über die Kirche als Institution der menschlichen Gesellschaft aus: wenn auch der übernatürliche Charakter der Kirche nicht in Frage gestellt wird, so widerspiegelt sich in der Kirchenpolitik, vom menschlichen Aspekt der Institution her gesehen, doch in allen Zeitläuften die Mentalität der jeweiligen Staatsideologien von dem Zeitpunkt an, als der römische Staat dem Christentum die Freiheit gab, die Kirche sich aber mit der damaligen unchristlichen sozialen Ordnung (Sklaven) abfand und damit ethische Konzessionen machte.

Die Analyse Dr. Popans zerstreut schlagartig die vom Politischen her beeinflußte Vorstellung von der Vordergründigkeit der orthodoxen Koexistenzpolitik im Satellitenbereich, die sich tief in unser Bewußtsein eingeprägt und jenes Gefühl der Überheblichkeit genährt hat, von dem der Westen immer noch der Orthodoxie gegenüber beherrscht war. Gewiß werden von dieser Schau her nicht alle kirchenpolitischen Zusammenhänge enträtselt werden können; vor allem wird manches harte Wort des Patriarchen, mit dem er bannfluchartig die römische Kirche bedachte, und besonders auch seine Unerbittlichkeit den rumänischen Unierten gegenüber, befremden. Manches davon aber, was wir hier im Westen geringschätzig als Koexistenzpolitik auch im Bereich der rumänischen Orthodoxie abtun, ist eher eine Flucht in die Tiefe und läßt deutlich erkennbare Merkmale einer echten christlichen Verinnerlichung erkennen. Wer könnte es wagen, diese Feststellung in Frage zu ziehen, wenn ihm bewußt ist, daß sich der Patriarch immer wieder in aller Öffentlichkeit so eindringlich zu ewigen Grundsätzen christlicher Lehre bekennt: „Das Wesentliche für die Begriffsbestimmung des Christentums ist der Primat des Geistes. Der Gedanke an die Ewigkeit und das Bewußtsein, daß das Leben nicht am Rande des Grabes endet und daß jenseits des Horizonts ein ebenso reales Leben wie das irdische auf uns wartet, müssen besonders lebendig in uns bleiben. Ich frage mich, was für einen Sinn unser Leben haben kann, wenn alles, was uns heute Freude macht, morgen mit der Handvoll Asche, aus der wir bestehen, vollständig verschwinden wird?!“

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