Genuß-Demokratisierung

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dieFurche: Es gibt derzeit einen Gourmet-Boom, Essen und Trinken in verfeinerter Form ist "in". Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

Christoph Wagner: Diese Entwicklung geht ja seit 20, 30 Jahren. Angefangen hat es eigentlich mit der Erfindung der Nouvelle cuisine in Frankreich. Es ist auch historisch erklärbar: Nach dem Krieg hat man zuerst einmal schauen müssen, daß man die Wirtschaft wieder in den Griff bekommt, und da war man froh, daß es überhaupt wieder etwas zu essen gegeben hat. Damals war der, der am meisten zu essen gehabt hat, angesehen, die Reichen haben die größeren Portionen gegessen, und die Ärmeren haben nicht so viel gehabt. Irgendwann einmal ist das dann gekippt, und es ist das Bedürfnis entstanden, daß man von der Quantität Abschied nimmt und sich wieder mehr der Qualität zuwendet. Da hat dann eins das andere gegeben, es hat die Küchenrevolution der Nouvelle cuisine gegeben, es ist auch bei uns in Österreich nicht zuletzt durch die Einführung des Gault-Millau ein gewisses Qualitätsbewußtsein entstanden; und man hat auch Lücken entdeckt: Man hat gesehen, es gibt im Vergleich zu - beispielsweise - Frankreich keine wirklichen Spitzenprodukte. Es gab keine Top-Käse, kein gutes Fleisch, keine speziell gezüchteten Hühner etc. Und so hat sich das gegenseitig ein bißchen befruchtet: Die Leute sind in gute Restaurants gegangen, die Kritiker haben geschrieben, wenn die Qualität nicht so gut war, die Restaurants haben wiederum ihre eigenen Lieferanten herangezüchtet, und so ist insgesamt allmählich die Qualität des Essens wirklich gestiegen. Und mit dem Wein ist es ganz ähnlich gewesen. Da gab es den Schock des Weinskandals, infogedessen man gesagt hat, es hilft nur ein Neubeginn, und der Neubeginn kann nur darin bestehen, auf Qualität statt auf Quantität zu setzen. Es ist eigentlich dasselbe Phänomen wie beim Essen, daß man gesagt hat, wir wollen nicht möglichst viel Wein haben, keinen Weinsee, sondern wir wollen weniger Wein - aber dafür besseren.

dieFurche: Nun könnte man sagen, Essen und Trinken ist vielleicht eine der schönsten Nebensachen der Welt, aber eben doch eine Nebensache. Wenn man diesen Gourmet-Boom jetzt ein bißchen kulturkritisch sehen möchte, stellt sich die Frage, ob das ganze nur eine Kompensation für das ist, was uns an Kultur, an Werten, an Orientierung möglicherweise verlorengegangen ist.

Wagner: Das ist sicherlich öfters der Fall. Früher war es wichtig, daß man ein paar Goethe-Zitate wußte und über Wiener Klassik diskutieren konnte, heute ist man im Small-Talk untauglich, wenn man nicht mindestens zehn Küchenchefs und zehn große Winzer kennt. Da hat es sicher eine gewisse Verschiebung gegeben, und wenn die zu stark ist, halte auch ich das für ungesund. Andererseits haben wir Restaurantkritiker mühsam an einer gewissen Aufwertung des Essens und Trinkens gearbeitet und auch ein bißchen dazu beigetragen, daß sich da die Qualität verbessert hat, und ich halte es nicht für schlecht, wenn Essen und Trinken nicht nur als Triebbefriedigung gesehen wird, sondern einfach auch als kulturelle Äußerung, wohlgemerkt als eine kulturelle Äußerung unter anderen, wie Musik, Literatur ... Das alles zusammen macht ja erst den gebildeten Menschen aus.

dieFurche: Die Hinwendung zu erlesenen kulinarischen Genüssen läuft parallel zu einer gesellschaftlichen Entwicklung, die immer mehr soziale Not und Ausgrenzung mit sich bringt. Kommt da dem Essen und Trinken eine Art Ablenkungsfunktion zu?

Wagner: Da interpretiert man ein bißchen zuviel hinein. Ich glaube nicht, daß, wenn besser gekocht wird, das ablenkt von der sozialen Lage. Aber natürlich gibt es die Gefahr, daß die Schere in der Gesellschaft immer weiter auseinanderklafft, und da muß man gegensteuern, weil sonst der soziale Friede in Gefahr ist. Ich selbst habe meine Arbeit immer als Beitrag zur Demokratisierung des Genusses verstanden. Wenn es heute in allen Massenmedien Beiträge über gute Küche und gute Weine gibt, dann führt dies auch dazu, daß ein entsprechendes Bewußtsein zur breiten Masse durchsickert. Das macht unsere Arbeit dann auch sinnvoll. Es kann sicher nicht angestrebt werden, daß es da elitäre Feinschmecker gibt, die abgehoben von der Realität in irgendwelchen Zirkeln ihren Genüssen frönen.

dieFurche: Ist aber nicht die Demokratisierung des Luxus im allgemeinen eine Illusion, die von den Massenmedien bewußt erzeugt wird? "Steirereck" (eines der führenden Haubenlokale Österreichs, Anm.) für jeden kann es ja nicht geben.

Wagner: Vielleicht nicht für jeden, es gibt natürlich in Österreich Leute, die sich das "Steirereck" nicht leisten können; etwas anderes zu behaupten, wäre beinahe obszön. Aber ich glaube, die meisten können sich's leisten. Gerade im "Steirereck" sind Sie, wenn Sie wollen, mit 300, 400 Schilling dabei, mit 1.000 Schilling kommen Sie zu zweit ohne weiteres aus. Jetzt kann man sagen, nicht jeder will sich für ein Essen für zwei Personen 1.000 Schilling leisten, denn man kann ja auch um 100 Schilling zum Würstelstand gehen. Aber umgekehrt leistet sich fast jeder Österreicher ein Auto, sehr viele können sich auch Fernreisen leisten. Sicher, nicht jeder kann sich alles leisten, aber wenn jemand heute hergeht und sagt, meine Freude ist es, gut zu essen, ich gehe einmal im Monat ins "Steirereck", dann ist es im Budget eines Durchschnittsverdieners drinnen.

dieFurche: Zur österreichischen Gastronomielandschaft: Ist es nicht so, daß die "gutbürgerliche" Mitte wegbricht, während einerseits ein an sich erfreulicher Trend zu mehr Spitzengastronomie eingesetzt hat und andererseits die miesen Beisel überbleiben?

Wagner: Das glaube ich nicht, ich habe eher den gegenteiligen Eindruck. Die miesen Beisel werden immer weniger, weil sie nicht lebensfähig sind. Die werden ersetzt durch Chinesen, Pizzerias oder Bankfilialen. Gleichzeitig erleben wir momentan erfreulicherweise, daß gerade die gutbürgerliche Mitte einfach besser wird. Wenn Sie heute in irgendein Gasthaus gehen, werden Sie überall frische Semmerl bekommen, wahrscheinlich sogar eine gewisse Variation an Gebäcksorten. Sie werden heute kaum mehr in einem Gasthaus gefragt: "weiß oder rot", sondern man wird ihnen zumindest ein paar Bouteillen-Weine, vielleicht sogar im offenen Ausschank anbieten können. Ich glaube also, daß die Mittelgastronomie besser geworden ist und daß eher die Spitze leidet. Sie leidet darunter, daß ihr einfach die Gäste abhanden kommen, weil das doch vielfach Leute sind, die Restaurantrechnungen von der Steuer abschreiben können, und nachdem die steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten immer weniger werden, wirkt sich das auf die Toprestaurants entsprechend aus. Es gibt Firmen, wo die Firmenleitung einen Erlaß herausgegeben hat, daß Geschäftsessen nicht mehr in Haubenlokalen abgehalten werden dürfen, weil das zu teuer sei.

dieFurche: Die Gastronomie ist auch in Österreich bunter und vielfältiger geworden. Damit geht freilich auch der Trend zur Nivellierung einher. Es ist fast schon egal, ob ich in Hongkong, Wien oder New York essen gehe.

Wagner: Das ist vielfach feststellbar. Es gibt das Phänomen genauso auf einer anderen Ebene: Früher habe ich von meinen Reisen meinen Kindern immer etwas mitgebracht, etwas Typisches von der jeweiligen Stadt. Wenn ich ihnen heute etwas mitbringe, sagen sie mir, daß sie das schon kennen, weil sie es schon auf der Kärntnerstraße gesehen haben. Es ist heute sicher zwischen einem Essen in einem Hongkonger Hotel und einem Wiener Hotel und einem Londoner Hotel weniger Unterschied als vor 20 oder 30 Jahren. Das ist eine Entwicklung, mit der man leben muß. Man verklärt aber auch oft die Vergangenheit. Man meint, früher hat es noch diese autochthonen Regionalküchen gegeben, von Generation zu Generation vererbt. Aber so war das nicht. Die Wiener Küche ist nichts anderes als eine Konglomeratsküche aus den ganzen Kronländern, und daraus ist etwas Neues entstanden. In einer ähnlichen Phase sind wir jetzt auch, die Welt wird immer kleiner, es passiert etwas ganz Natürliches, die Leute fahren herum, lernen etwas kennen und versuchen, das in ihre eigene Küche einzubinden. Die Fehlentwicklungen schleifen sich mit der Zeit ab. Ich wage zu prophezeien, daß in 100 Jahren der Döner alstypisches Wiener Gericht gilt.

Das Gespräch führte Rudolf Mitlöhner.

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