"Gerechtigkeit muss Gemeingut werden"

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Jan Assman ist ein international anerkannter Ägyptologe, dessen archäologische Feldarbeit nicht nur neue Perspektiven auf die Religionsgeschichte Ägyptens eröffnet, sondern auch für die allgemeine Religionsgeschichte von Bedeutung ist. Bei den diesjährigen Salzburger Hochschulwochen hielt er die Festrede zum Thema "Religion und Gerechtigkeit".

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Jan Assman ist ein international anerkannter Ägyptologe, dessen archäologische Feldarbeit nicht nur neue Perspektiven auf die Religionsgeschichte Ägyptens eröffnet, sondern auch für die allgemeine Religionsgeschichte von Bedeutung ist. Bei den diesjährigen Salzburger Hochschulwochen hielt er die Festrede zum Thema "Religion und Gerechtigkeit".

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Die Furche: Herr Professor Assmann, nach einer gängigen Meinung ist Gerechtigkeit im Kontext der monotheistischen Religionen entstanden, das heißt, das sogenannte Heidentum hätte keine Moralvorstellungen gehabt. Warum ist das eine Verunglimpfung?

Jan Assmann: Als Ägyptologe sieht man, dass schon lange vor der Heraufkunft der monotheistischen Religionen in den antiken Gesellschaften sehr entwickelte Moralvorstellungen herrschen - mindestens so entwickelt wie im Alten Testament, nur dass sie eben nicht in den Rahmen der Religion im engeren Sinn gehören. Sie entwickeln sich zusammen mit dem Staat als Regeln des Zusammenlebens von Menschen in komplexeren Formen, in Städten, in großen Gemeinschaften.

Das Interessante ist, dass diese Regeln auch international sind. Da sehen sich die mesopotamischen, die ägyptischen, später dann auch die griechischen Regeln, also Hesiod, sehr ähnlich. Während ja der Monotheismus eigentlich eine Grenze zieht zwischen sich und den Heiden. Da wird eine Grenze aufgerichtet, die einen Horizont der Wahrheit ausgliedert aus einer Welt des Irrtums, und dieser Horizont der Wahrheit wird vor allem auch auf die Idee der Gerechtigkeit gegründet. Deswegen ist es für die monotheistische Religion auch wichtig, darauf zu bestehen, dass die sogenannten Heiden eben keine Vorstellung von Gerechtigkeit haben. Das würde ich eine Verunglimpfung nennen, aber eine notwendige Verunglimpfung, um diese Grenze ziehen zu können zwischen Wahrheit und Lüge oder Irrtum, die für diesen neuen Typus von Religion doch unabdingbar ist.

Die Furche: Was Sie als Ethisierung der Religion und Sakralisierung der Gerechtigkeitsvorstellung beschreiben - ist das von heute aus gesehen eigentlich ein positiver Prozess oder einer, den wir eher bedauern sollten?

Assmann: Ein problematischer Prozess. Ich würde meinen, wir sollten zu der relativen Weltlichkeit und auch zur Interkulturalität oder Internationalität der Gerechtigkeit zurückfinden. Gerechtigkeit, wenn wir sie so eng mit der Idee der religiösen Wahrheit verbinden, lässt sich schwer aushandeln. Es gibt viele Religionen mit einem sehr exklusiven Wahrheitsanspruch, und die machen es schwierig, zu gemeinsamen Vorstellungen von Menschenrechten zu kommen.

Da halte ich es für hilfreich, sich daran zu erinnern, dass bevor die Gerechtigkeit in dieser Weise in den Himmel gehoben und zu einer religiösen Idee wurde, sie durchaus auf der Erde gewohnt hat und dort Gemeingut der damaligen Gesellschaften war. Und so müßte sie eigentlich wieder Gemeingut der heutigen Gesellschaften werden, und da ist es möglicherweise leichter, wenn wir sie weniger religiös verstehen.

Die Furche: Auf der anderen Seite existieren die Religionen nach wie vor, und da sollte man vielleicht auch über die Gefahren einer religiösen Renaissance ohne ethische Fundierung, wo also das Kernstück nicht Gerechtigkeit ist, sprechen.

Assmann: Das muß man sich wohl auch klarmachen, dass es in der Religion von Haus aus nicht um Gerechtigkeit geht, sondern um Heiligkeit und das Numinose, den Umgang mit Gott beziehungsweise mit dem Göttlichen, und das ist nicht unbedingt dasselbe wie Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist im Kern eine soziale Idee, sie betrifft das Zusammenleben der Menschen.

Und es war nötig in einer bestimmten Phase der Menschheitsentwicklung, diese Ideen eines harmonischen Zusammenlebens auf eine religiöse Grundlage zu stellen, auch um vom Staat loszukommen. Das hängt ja sehr eng zusammen: die Idee des einen Gottes und die Idee derBefreiung von der Herrschaft der Menschen, vom ägyptischen Staat. Der Pharao, der ägyptische Staat,ist in der Bibel der Inbegriff von Knechtschaft. Von Ägypten aus gesehen ist aber der Staat ein Instrument der Befreiung: der Befreiung von der Unterdrückung der Menschen untereinander. Der Staat sorgt dafür, dass Gerechtigkeit herrscht. Diese ägyptische Konstruktion - wir brauchen den Staat, damit wir uns nicht gegenseitig unterdrücken, der Staat als ein Institut der Befreiung - diese ägyptische Vorstellung wird von der Bibel durchkreuzt oder überboten durch die Idee eines gesetzgebendenGottes. Und so wird die Gerechtigkeit zur Sache der Religion.

Das war sicher nötig, um einen Schritt herauszukommen aus diesen Gebilden der orientalischen Monarchie - ich sage extra nicht Despotie, auch das ist eine Verunglimpfung. Der biblische Schritt und der griechische - also Demokratie - waren sicher ganz wichtige Schritte in der Menschheitsentwicklung. Aber die Bibel hat diesen Schritt eben getan auf Kosten der Menschlichkeit und Weltlichkeit des Gerechtigkeitssinns.

Und jetzt müßten wir wahrscheinlich einen neuen Schritt tun und zu einer Vorstellung von Gerechtigkeit vorstoßen, bei der wir nicht auf Gott angewiesen sind. Wenn wir wie bisher davon ausgehen, dass die Gerechtigkeit im Rahmen der Religionen entstanden ist und dort ihre Heimat hat und aus diesem Rahmen nicht herausgenommen werden kann, ohne sie grundlegend zu verfälschen, dann meine ich, das ist eine spätere Entwicklung. Die Heimat der Gerechtigkeit ist ganz woanders, und sie ist eigentlich genau da, wo wir sie jetzt auch wieder brauchen.

Die Furche: Noch einmal nach Ägypten zurückgefragt: Wie gut kann man eigentlich die Entstehung dieser Gerechtigkeitsvorstellungen rekonstruieren: aus welchen Bedürfnissen und Situationen heraus?

Assmann: Natürlich nie mit letzter Sicherheit! Aber wir haben sehr viele Texte und eine sehr gut dokumentierte Geschichte über 2500-3000 Jahre, sodass die Rekonstruktion schon auf verhältnismäßig festen Füßen stehen. Unsere Hauptquellen sind Grabinschriften. Die ägyptischen Grabinschriften sind ein hochmoralischer Diskurs. Das Grab ist in gewissem Sinn eine moralische Anstalt in Ägypten, weil der Ägypter davon ausging, dass er, um in seinem Grab fort-dauern zu können, einen sicheren Platz im Gedächtnis der Nachwelt haben muß. Und der kommt nur einem Gerechten zu.

In seinen Grabinschriften stellt er sich als einen Gerechten dar. Diese Inschriften haben gewissermaßen einen apologetischen Charakter, sind eine Rechtfertigung des Grabherrn vor dem Tribunal der Nachwelt, und aus diesen Gedanken heraus entwickelt sich in Ägypten dann auch die Idee des Totengerichtes. Das Urteil der Mit- und Nachwelt wird jetzt zum Urteil eines Göttergerichts, das aber nach genau denselben Normen und Kriterien urteilt wie die Nachwelt.

Da entsteht nicht dieser typische Kontrast, den wir aus unserer religiösen Tradition kennen, zwischen dem Willen Gottes und dem Urteil der Menschen. Für uns ist es ja selbstverständlich, dass man, wie es biblisch heißt, um der Gerechtigkeit willen leiden kann, und zwar gerade, indem man den Willen Gottes erfüllt, es schwer hat, möglicherweise scheitert, zum Märtyrer wird. Das ist in Ägypten völlig undenkbar. Der Wille Gottes, der Erfolg, die Liebe, der Beifall der Menschen, die gehen immer zusammen.

Die Furche: Wann ist der Ägypter gerecht?

Assmann: Der Ägypter ist in dem Maße gerecht, in dem es ihm gelingt, das, was er Gier nennt, zu bezwingen, also über den Augenblicksnutzen und die Augenblicksbegierden und -wünsche hinauszudenken einerseits an andere, an das Ganze, das Gemeinwohl und andrerseits an die Folgen bis hin zum Leben nach dem Tode. Also er ist umso gerechter, je weiter der Horizont ist, in dem er seine Handlungen und Entscheidungen einbettet. Und was für den Ägypter als der weiteste Horizont im Blick steht, ist eben der Staat oder auch die Stadt als die Gemeinschaft, zu der er sich zugehörig fühlt.

Die Furche: Wenn man heute dieses ägyptische Modell aktualisiert gegen das religiöse Modell, stelle ich mir die Frage: Hätten in diesem Kontext - wenn das doch sehr stark mit Beifall und Mehrheit verbunden ist - hätten dann Minderheiten, Fremde auch eine Chance, zu Gerechtigkeit zu kommen?

Assmann: In dem Maße, wie sie sich einfügen. Das ist natürlich schon ein sehr integratives Denken, und dazu wären wir wohl heute nicht mehr bereit. Wir wären heute sicher außerstande, uns so ameisenhaft in einen Staat einfügen zu können. Das ist wohl klar, dass die ägyptische Gerechtigkeitsidee nicht das Modell heutiger Gerechtigkeitsvorstellungen sein kann, die natürlich den anderen oder die anderen im Rahmen einer übergreifenden Gemeinschaft anerkennen müssen.

Das Gespräch führte Cornelius Hell.

ZUR PERSON Archäologe auf den Spuren der Totenreligion Ägyptens Jan Assmann wurde am 7. Juli 1938 geboren, besuchte die Volksschule in Lübeck und das Gymnasium in Heidelberg. Nach dem Abitur 1957 studierte er zunächst in München, dann in Heidelberg Archäologie, Ägyptologie und Gräzistik , um, sich nach einem Studienjahr in Paris ganz der Ägyptologie zuzuwenden. 1965 promovierte er und1971 habilitierte er sich. 1972 wurde er zum Universitätsdozenten ernannt und 1976 auf den Lehrstuhl für Ägyptologie in Heidelberg berufen.

Bis 1994 leitete er auch ein Ausgrabungsprojekt. Diese Feldarbeit erbrachte eine Fülleneuer Erkenntnisse, die die ägyptische Religionsgeschichte auf eine neue Grundlagestellten. Dieses neue Bild der ägyptischenReligion hat Assmann in zahlreichen Publikationen dargestellt. Einen besonderen Forschungsschwerpunkt bildet die Totenreligion der alten Ägypter. Er hat zahlreiche Arbeiten und Bücher publiziert. Jan Assmann, seit 1968 verheiratet, ist Vater von fünf Kindern.

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