Geschrieben für Freunde jenseits des Grabes ...

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Arthur Schnitzler legte großen Wert auf die Edition der Tagebücher: Der letzte Band ist fertig.

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Arthur Schnitzler legte großen Wert auf die Edition der Tagebücher: Der letzte Band ist fertig.

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Über 51 Jahre lang hat Arthur Schnitzler Tagebuch geschrieben. Am 19. März 1879 begann er damit unter Einbeziehung von Notizen aus älteren Büchlein und Heften, die er anschließend verbrannte. Damals war etwa über den großen Wiener Festzug zur Silberhochzeit des Kaiserpaares zu berichten. Als er 1931 zwei Tage vor seinem Tod endete, war die Erste Republik schon in Auflösung begriffen. Der 17jährige Gymnasiast hatte die Themen der schriftlichen Arbeiten zur Reifeprüfung notiert. Der vom Tode Gezeichnete vermerkt nach dem Heimwehr-Putsch: "Völlig unsichere Zukunft: Verelendung" Im Mai kann die Österreichische Akademie der Wissenschaften (Kommission für Literarische Gebrauchsformen) mit dem zehnten Band das vollständig entzifferte, weitgehend entschlüsselte und mit Registern versehene Tagebuch von Arthur Schnitzler abschließen. Damit wird allen Literaturfreunden und Kulturhistorikern ein Werk zugänglich gemacht, das im deutschen Sprachraum keine Parallele hat.

14.000 Namen sind in den 85.000 Eintragungen auf rund 4.500 Textseiten zu finden. Aber das ist nur das Äußerliche. Warum hat Schnitzler sich dieser täglichen Mühe unterzogen, hielt er durch alle Wechselfälle seines Lebens an seinen Eintragungen fest, meist im Abstand von höchstens zwei Tagen zu den Erlebnissen und Ereignissen, oft auf dem Umweg über kleine Notizbücher?

Der Herausgeber Werner Welzig stellt als Motto vor seine Erläuterungen ein Zitat aus dem Tagebuch: "Blättre Nm. in alten Tagebüchern ... Ist das wirklich alles so lange her? - Unsagbar tief ergriff mich manches - nicht nur weil ich es bin. Es ist mein brennender Wunsch, daß sie nicht verloren gehen. Ist das Eitelkeit? - Auch, gewiß. Aber irgendwie auch wie ein Gefühl der Verpflichtung. Und als könnt es mich von der quälenden innern Einsamkeit befreien, wenn ich - jenseits meines Grabes Freunde wüßte."

Schnitzler hat seine Tagebücher fallweise wieder gelesen. Er war jedoch vor allem darum besorgt, "sich die eigenen Aufzeichnungen zu erhalten, um sich in den eigenen Aufzeichnungen zu erhalten" (Welzig). Also ein Denkmal, das ihn überdauern sollte. Alma Mahler-Werfel vertraute er an: "Nein, ich weiß, daß ich kein ganz Großer bin. Es gibt viel, viel größere Dichter als ich, aber ich glaube, daß diese Tagebücher, wenn sie einmal herauskommen sollten, sich an Bedeutung mit den Werken der Größten messen können." Er stellte sie also über seine literarischen Werke. Nun sind sie herausgekommen, nachdem sie alle Fährnisse von Emigration und Krieg wunderbar überdauert haben.

Bis zu seinem Tode hat er alles getan, die ihm so kostbaren Blätter zu schützen. Sie wurden meist in einem Banksafe hinterlegt. Schnitzler war, so Welzig, überzeugt, "daß das lebenslange mühsame, um strenge Form bemühte und zugleich ästhetisch anspruchslose Aufschreiben eine Dauer gewinnen könne, die der physischen Existenz, aber auch dem dramatischen und erzählerischen Werk versagt ist". Der Dichter verfügte, daß mit der Abschrift seiner schwer lesbaren Notizen gleich nach seinem Tode begonnen werde (es wurde schon früher, allerdings fehlerhaft, begonnen). Sie dürften nicht gemildert, gekürzt oder sonstwie verändert werden, um "Popularisierung" zu verhindern.

Die Veröffentlichung sollte aber erst beginnen, sobald anzunehmen war, daß die (oft sehr kritisch beurteilten) Zeitgenossen nicht mehr am Leben waren. Aus vielen Indizien (etwa kommentierenden Zusätzen) ist nachzuweisen, daß es Schnitzler nicht nur darum ging, seine Erlebnisse festzuhalten und sein inneres Chaos zu bändigen. Er schrieb durchaus an "Freunde jenseits des Grabes", nur nicht so druckfertig wie etwa Thomas Mann. Je mehr man von Leben und Umwelt Schnitzlers weiß, umso spannender lesen sich diese Notizen, die von schmucklosen Stichworten bis zu Skizzen für ganze Dramen-Szenen reichen. Die Zeitspanne eines guten halben Jahrhunderts läßt auch erkennen, daß Schnitzler nicht nur ein Autor des so oft beschworenen "Wien um 1900" ist, sondern sich mit seiner Zeit entwickelte.

Der Student begeisterte sich für die Stücke Henrik Ibsens, der 66jährige notierte von einer Gesellschaft, zu der seine Nichte mit ihrem amerikanischen Mann erschienen war: "... mit ihnen Mr. Pound, Amerikaner, Freund Joyce's; Lyriker, etwas seltsam anzusehen (ähnlich Rudolf in Boheme)." Sein Frauenbild, das aus den Stücken bekannt ist und zu dem sich unzählige Belege auch in den Tagebüchern finden, hat sich im Lauf der Zeit stark verändert. Um 1928 lesen sich die ständigen Reibereien mit der geschiedenen Frau und die Eifersucht ihrer zeitweiligen Nachfolgerinnen ganz anders als die vielen, meist flüchtigen Begegnungen mit den "Süßen Mädln" der jungen Jahre.

Das äußere Leben ist immer mehr von der rasch sich entwickelnden Technik geprägt. Schnitzler war da ein aufmerksamer Beobachter. Er stieg früh aufs Fahrrad, das "Bicycle", fand bald auch Vergnügen am "auteln", setzte sich aber nicht selbst ans Steuer. Flugzeug und Zeppelin beobachtete er anfangs mit Ergriffenheit, besuchte oft das Kino. Sechs- bis siebenhundert Stummfilme dürfte er sich angesehen haben, wobei er auch am Verfassen von Drehbüchern oder am Verkauf von Lizenzen für die Verfilmung seiner Stücke interessiert war. In der Inflationszeit hielt er sich mit Dollars aus Hollywood über Wasser.

Dem Stummfilm blieb er auch treu, als die ersten Tonfilme kamen, die er wegen zunehmender Schwerhörigkeit nicht voll genießen konnte. Das Tagebuch half ihm auch beim Bewältigen großer seelischer Verstörungen, die er in knapper Form notiert: Krieg, Trennung der Ehe, Selbstmord der Tochter Lili. Die bohrende Frage nach dem Warum des Abschieds dieser jung verheirateten Tochter vom Leben läßt ihn in den letzten Jahren nicht mehr los. Immer wieder erzählt er auch von Träumen. Offenbar waren sie ihm nicht nur "Schäume", die beim Erwachen vergessen sind. Er konnte sich erstaunlich genau erinnern.

Die kleinen Blätter auf Konzeptpapier im Format von 170 mm Breite und 206 mm Höhe, die dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach gehören, sind nun ausgewertet, aber auch in Fotokopien noch zu weiterer Bearbeitung zugänglich. Denn die Erforschung des Umfeldes geht ja weiter und könnte immer wieder zu Korrekturen führen. Zugleich mit der Präsentation des zehnten Bandes (Tagebuch 1931 und Gesamtregister) wird das Marbacher Archiv in Wien im Mai eine "Kabinett-Ausstellung" veranstalten, die anschließend auch in andere Städte wandern soll.

Arthur Schnitzler. Tagebuch 1879 - 1931 Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien Preis Band 1 bis 9 je öS 490,-/e 35,61

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