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Die Frage nach dem Zusammenhang von Religion und Gesundheit darf nicht auf das Individuum beschränkt werden. Denn Gerechtigkeit und Gemeinwohl spielen für die Bevölkerungsgesundheit eine zentrale Rolle.

Unser Gesundheitssystem? Lernen wir von Kuba", überschrieb der us-amerikanische Journalist Nicholas Kristof vor einiger Zeit einen Beitrag in der New York Times. Er verdeutlichte seinen Mitbürgern diese Feststellung wie folgt: "Ich teile ihnen eine schmerzliche Tatsache mit: Hätten die Vereinigten Staaten von Amerika eine Kindersterblichkeitsrate, die so gering wäre wie jene von Kuba, würden wir jährlich 2.212 Babys vor dem Tode bewahren. Babys haben eine geringere Chance, in Amerika zu überleben, dessen Gesundheitssystem wir für das beste der Welt halten, als im vergleichsweise armen und autokratischen Kuba."

Noch einmal: In den usa als dem Land mit den höchsten Gesundheitsausgaben der Welt ist die Kindersterblichkeit höher als in Kuba. Zwar ist in Kuba auch der Gesundheitssektor in jüngster Zeit nicht vor Problemen verschont geblieben, dennoch gehören Kubanerinnen und Kubaner weiterhin zu den gesündesten Menschen der Welt. Nach Peter Bourne, Arzt und Berater für Gesundheitsfragen in der Regierung Carter, verfügt Kuba über eine gute, flächendeckende ärztliche Grundversorgung durch Polikliniken (Gemeinschaftspraxen) und über ein im Allgemeinen hoch motiviertes medizinisches Personal, das sich Zeit für die Patienten nimmt. Prävention und Vorsorge spielen in diesem System eine zentrale Rolle. Nach der kubanischen Revolution begannen Ärzte, Schwestern und Pfleger, sich um eine gesundheitsfördernde Infrastruktur zu kümmern, besonders in ländlichen Gebieten. Sie engagierten sich für das Anliegen, allen Menschen sauberes Trinkwasser zur Verfügung zu stellen und die Moskitoplage einzudämmen.

Medizin gerecht verteilt

Diese Darstellung der unbestreitbaren Erfolge des kubanischen Gesundheitssystems soll weder die Menschenrechtsverletzungen Fidel Castros bagatellisieren noch den Marxismus katholisch "aufwärmen". (Letzteres wurde Papst Paul vi. vom Wall Street Journal vorgeworfen, weil er dem Recht auf Privateigentum und dem freien Spiel des Wettbewerbs in seiner Enzyklika "Populorum progressio" von 1967 strenge Grenzen setzte). Der Vergleich zwischen der Kindersterblichkeit in den usa und in Kuba zeigt aber ganz klar, dass die Bevölkerungsgesundheit eines Landes nicht allein und nicht vorrangig von seinem materiellen Reichtum abhängt, auch nicht von der Zahl seiner Medizinnobelpreis-Träger und von neuesten medizinischen Spitzentechnologien. Für die Gesundheit einer Bevölkerung sind vielmehr eine ausreichende gesundheitsrelevante Infrastruktur und ein möglichst gerechter, das heißt ein allen verfügbarer Zugang zu den medizinischen Einrichtungen entscheidend. Ungerechtigkeit und Ungleichheit schaden der Gesundheit, sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Österreich.

Richard G. Wilkinson von der University of Sussex hat in seiner 1996 erschienen Studie "Kranke Gesellschaften" dargestellt, dass zwischen Bevölkerungsgesundheit und sozialer Gleichheit eine positive Korrelation besteht. Auch Stephen Bezruchka von der School of Public Health in Seattle stellt fest, dass "Länder, in denen Reichtum und Einkommen gleichmäßiger verteilt sind, gesünder sind als jene, in denen einige Privilegierte den Löwenanteil bekommen." Nach Bezruchka ist die Wechselbeziehung von Gesundheit und Gleichheit ebenso gut nachgewiesen wie jene von Rauchen und Lungenkrebs.

Bildung statt Tabletten

Wissenschaftliche Studien zur kollektiven oder öffentlichen Gesundheit ("Public Health") akzentuieren die sozioökonomische und die psychosoziale Dimension gesundheitlicher Entwicklung. Sie widersetzen sich der vorherrschenden Individualisierung und Medikalisierung des Gesundheitswesens. So lässt sich etwa nachweisen, dass es vor allem der Bau von Wasserleitungen und Kanalisation war, der im 19. Jahrhundert eine Erhöhung der Lebenserwartung in vielen Städten bewirkte, nicht die Einführung moderner medizinischer Maßnahmen. Nach dem Grazer Sozialmediziner Willibald Stronegger sind heute unter anderem folgende Infrastruktur-Faktoren entscheidend für den gesundheitlichen Zustand von Menschen: Bildung und Einkommen, berufliche Stellung und Ansehen, Arbeitsbedingungen und Lebensbedingungen in der eigenen Kindheit, soziale Kontakte und Unterstützung durch andere, Wohnungsqualität und Wohnumwelt. Wesentlich für die Bevölkerungsgesundheit sind nach Stronegger auch das Sozial-und Gesundheitssystem und die ökologischen Rahmenbedingungen inklusive der Verkehrspolitik: "Die gesamtwirtschaftlichen Kosten des Individualverkehrs sind exorbitant und fehlen für die öffentliche Verkehrsinfrastruktur." Dies lässt sich übrigens, um bei einem lokalen Beispiel zu bleiben, an der krank machend hohen Feinstaubbelastung der Grazer Stadtluft demonstrieren, die durch den Individualverkehr entscheidend mitverursacht wird.

Für soziale Gerechtigkeit

Die sozialmedizinische Forschung verweist auf die Bedeutung, die überindividuelle Faktoren für die individuelle Gesundheit haben. Es geht ihr, sozialethisch ausgedrückt, um das Gemeinwohl. Denn unter dem Gemeinwohl versteht die katholische Soziallehre jene gesellschaftlichen Voraussetzungen, die es den Einzelnen und den Gruppen ermöglichen, sich gut zu entwickeln und ein erfülltes, wahrhaft menschliches Leben zu führen. Die Orientierung am Gemeinwohl als dem "Wohl aller und eines jeden" (Johannes Paul II.) und das damit zusammenhängende Engagement der Kirche für soziale Gerechtigkeit wird in einigen neueren lehramtlichen Sozialdokumenten als wesentlicher Bestandteil der Glaubensverkündigung begriffen. Die römische Bischofssynode von 1971 erklärte: "Für uns ist der Einsatz für die Gerechtigkeit und die Beteiligung an der Umgestaltung der Welt wesentlicher Bestandteil der Verkündigung der Frohen Botschaft, der Sendung der Kirche zur Erlösung des Menschengeschlechts und zu seiner Befreiung aus jeglichem Zustand der Bedrückung. Der Auftrag, das Evangelium zu verkünden, erfordert heute den ungeteilten Einsatz für die volle Befreiung des Menschen." ("De justitia in mundo" Nr. 6, 36)

Das Christentum ist keine weltabgewandte Innerlichkeitsreligion. Der Einsatz für die Armen und Benachteiligten, für Geschwisterlichkeit und Gleichheit, für Gerechtigkeit und Gemeinwohl sind zentrale Elemente seiner Frohbotschaft. Dieser Einsatz fördert und hebt die Bevölkerungsgesundheit, denn die Gesundheit des Einzelnen setzt gesunde Lebensbedingungen und soziale Chancengleichheit voraus. Katholische Soziallehre macht gesund, allerdings nur dann, wenn sich Kirche und Gesellschaft in ihrer jeweiligen Praxis ernsthaft an ihr orientieren. In dieser Hinsicht aber bestehen noch beträchtliche Defizite.

Der Autor ist ao. Universitätsprofessor für Ethik und Christliche Gesellschaftslehre in Graz.

Veranstaltungstipp:

GESELLSCHAFT, GESUNDHEIT,

GEMEINWOHL

Soziale Bedingungen körperlicher und seelischer Gewalt

Vortrag von Kurt Remele im Rahmen der öffentlichen Vorlesungsreihe "Macht Religion gesund" der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz in Kooperation mit der furche.

Zeit: Donnerstag, 26. Jänner,

19.00 Uhr

Ort: Hauptgebäude der Universität Graz, Universitätsplatz 3, 1. Stock,

Hörsaal 01.14

Der Eintritt ist frei.

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