Gibt es ein Recht auf Einwanderung?

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Die Flüchtlingsdebatte polarisiert. Dabei haben beide seiten -etwa pro und kontra asyl-obergrenze -sachliche argumente, die zu diskutieren sind. Ein Gastkommentar.

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Die Flüchtlingsdebatte polarisiert. Dabei haben beide seiten -etwa pro und kontra asyl-obergrenze -sachliche argumente, die zu diskutieren sind. Ein Gastkommentar.

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Die Flüchtlingskrise hat zwar die Unterscheidung zwischen Migration und humanitärer Hilfe unscharf werden lassen, nicht jedoch jene zwischen Recht auf Asyl und Recht auf Einwanderung. Während selbst rechtspopulistische Parteien ersteres selten in Frage stellen, wird das Recht auf Einwanderung als abhängig von der Zustimmung des Gastlandes gesehen. Das Zielland entscheidet, ob jemand einwandern und sich niederlassen darf oder nicht.

Die aktuelle Diskussion um die Einführung einer Obergrenze bei der Aufnahme von Flüchtlingen in Österreich hat die Polemik noch einmal verstärkt. Stephan Schulmeister wirft den Verfechtern einen Mangel an Mitmenschlichkeit und Empathie sowie eine neoliberal geprägte "Eigennutzideologie" vor, die unmoralisch und kurzsichtig sei (Der Standard, 21. Jänner). Die Gegenseite beruft sich auf die chaotische Situation, auf begrenzte Aufnahmekapazitäten, auf steigende Arbeitslosigkeit oder auf die Verletzung des EU-Rechts durch Griechenland.

Kosmopolitischer Universalismus

Jens Jessen nennt in der Zeit die Flüchtlingsdebatte eine "Scheindebatte", Isolde Charim schreibt in der Wiener Zeitung (6./7. Februar) von einem "Meinungsaufmarsch in Reinkultur" und einem "Clash" der Meinungen und Vorurteile. Beide Seiten in der Debatte haben aber durchaus sachliche Argumente zu bieten, die anhand der Konzeptionen eines Rechts auf Einwanderung in den naturrechtlichen und rechtsphilosophischen Debatten seit der spanischen Conquista rekonstruiert werden können.

Viele Autoren entwarfen -ausgehend vom Theologen Francisco de Vitoria (1483-1546) - in Ansätzen einen normativen Universalismus, der kosmopolitische Implikationen hatte: Der Unterschied zwischen Staatsbürgern und Fremden war auf dieser basalen Ebene nicht relevant, da die rechtliche oder moralische Gemeinschaft die ganze Menschheit umfassen sollte.

Zu den grundlegenden Argumenten gehörte die moralische Unerheblichkeit von Grenzen, weil Menschen keine Verantwortung dafür tragen, in welche Regionen sie hineingeboren werden. Daraus folgerte etwa Kant, dass "ursprünglich [ ] niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere" (Zum ewigen Frieden). Vom Standpunkt der Unparteilichkeit würden Personen ein gleiches und allgemeines Recht auf Einwanderung wählen. Philosophinnen und Philosophen der Gegenwart haben viele dieser Argumente weiter ausgeführt, unter ihnen Jürgen Habermas, Bernd Ladwig oder Alexander Somek.

Qualifizierungen dieses -im Idealfall -kosmopolitischen Universalismus gab es seit dem Jesuiten Luis de Molina (1535-1600), der eine Vitoria-Kritik formulierte, die viele spätere Überlegungen vorwegnahm: er lehnte die Orbis-Idee ab, das heißt die Vorstellung einer natürlichen Gemeinschaft aller Menschen und hielt das Recht auf Einwanderung für ein von Menschen gemachtes positives Recht. Die einzelnen Gemeinwesen wären befugt zu bestimmen, ob Immigration, Handel etc. zugelassen werden oder nicht.

Das Fremdenrecht, speziell das Recht auf Einwanderung gehörte nunmehr zum ius imperfectum. Gemeinschaften hätten Kraft ihrer Souveränität das Recht, Besucher ohne weitere Angabe von Gründen abzuweisen. Vor allem im 19. Jahrhundert, als sich der völkerrechtliche Grundsatz staatlicher Souveränität endgültig durchsetzte, wurden universalistische und kosmopolitische Ansätze weiter zurückgedrängt.

Das Bestehen auf staatlicher Souveränität muss keine willkürliche normative Setzung sein. Bestehende Rechtsordnungen, so unvollkommen sie auch sein sollten, können als eine Annäherung an gerechte Verhältnisse gedeutet werden und sind daher moralisch relevant. Bernd Ladwig formuliert: "Wer nach Menschenrechten verlangt, muss gerechte Ordnungen wollen. Wer gerechte Ordnungen will, muss die bestehenden Ordnungen berücksichtigen." Joseph Carens spricht von einer public order restriction. Ungeregelte Einwanderung würde wahrscheinlich bestehende Rechtsstaaten destabilisieren und vielleicht sogar in ihrer Existenz gefährden.

Moralphilosophisches Dilemma

Allgemeine rechtsphilosophische Prinzipien müssen auf konkrete Fälle angewendet werden. Das erfordert Urteilskraft, und dieser Prozess der Beurteilung ist fehleranfällig. Anders als mit einem Versuch der Abwägung lässt sich aber das gegenwärtige moralphilosophische Dilemma Europas nicht lösen: auf der einen Seite das schlechte Gewissen von Wohlstandsbürgern, die wissen, dass der moralische Universalismus, der halbiert wird, sich selbst aufhebt.

Auf der anderen Seite der eigene Egoismus und die Argumente der Klugheit -der mögliche wirtschaftliche Nutzen oder Schaden, demografische Erwägungen, die möglichen innenpolitischen Risiken, die Rücksichtnahme auf die Stimmung in der eigenen Bevölkerung. Je länger die Flüchtlingskrise dauert, desto häufiger wird wahrscheinlich das Argument der public order restriction in den Vordergrund treten.

Den Befürwortern einer Obergrenze einfach Eigennutzideologie und Mangel an Moral vorzuwerfen, ist wohl zu einfach. Moral bzw. Humanität benötigt immer auch Augenmaß, Urteilskraft und eine angemessene Portion an Klugheit. Was "angemessen" bedeutet, könnte ohne Polemik und sachlich, unter Berücksichtigung der Rechte aller Betroffenen inkl. der Asylsuchenden, in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Diese kritische Öffentlichkeit wäre Österreich zu wünschen.

| Der Autor ist u. a. Lehrbeauftragter f. Philosophie an der Uni Wien |

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