Gott finden in der Stadt

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Stadtmission I: Schon im Brief an Diognet, einem der ältesten urchristlichen Texte, werden die Christen als "Seele der Städte" bezeichnet. Überlegungen zu einer Spiritualität der Stadt.

Städte sprechen eine deutliche Sprache, mehr noch: "Die Stadt ist eine Sprache" (J. Comblin, Théologie de la ville, Paris 1968, 45). Als Verleiblichung und lebendiger Ausdruck menschlicher Gesellschaft geben sie genau Auskunft über die Menschen, die sie erbauen und bewohnen, über deren Ängste und Hoffnungen. Die moderne Großstadt hat beides zu bieten: Segen und Bedrohung. Sie ist Wirtschaftsstandort, Forum von Bildung und Kultur. Sie liefert unübersehbare Kommunikationsmöglichkeiten. Zugleich weisen Naturzerstörung, Hektik, Anonymität, Einsamkeit und Kriminalität auf eine Pathologie der modernen Großstadt hin.

"Stadt ohne Gott"?

Dabei erscheint das Phänomen "Stadt" nicht nur als Produkt moderner westlicher Kultur, sondern auch in ihrer religiösen Relevanz ambivalent. Denn sie ist tendenziell eine "Stadt ohne Gott" (H. Cox). Urbane Zivilisation ist verbunden mit Säkularität. Nirgendwo wird die Entwicklung zu einer postchristlichen Gesellschaft offenkundiger wie in der modernen Großstadt. Die allgemeine Entchristlichung der Religiosität führt jedoch nicht nur dazu, dass die Stadt ohne Gott auskommt, sondern dass sie sich je nach Bedarf neue Götter schafft. So scheint "Ninive, die große Stadt" (Jona 1,2) als "Stadt ohne Gott" derzeit überall. Ein Plädoyer für die Stadtflucht, für den Auszug der Kirchen aus der gottlosen Stadt? Nach Auskunft der biblischen Erzählung bleibt Gott - anders als Jona, sein Prophet - an der "großen Stadt" und deren Zukunft interessiert (Jona 4,11).

Die Bibel verknüpft die Sache Gottes von Beginn an auf eigenartig dialektische Weise mit der Stadt. Der Brudermörder Kain ist der erste Städtebauer der Welt (Gen 4,17). Am Ende der Urgeschichte steht das Versagen des Stadt- und Turmbaus zu Babel (Gen 11,4). Der Werdegang des Gottesvolkes beginnt mit dem Exodus einer Familie aus der berühmtesten damaligen Weltstadt, der mesopotamischen Tempelstadt Ur (Gen 15,7). Später besingen die Psalmen Jerusalem als "Gottesstadt" (Ps 46,5f; 48; 87,1f). Im Exil schlug die Stunde der großen Zukunftsvisionen. Hier steht Stadt gegen Stadt: Jerusalem als die messianische Zukunft gegen Babylon, die Stadt der Unterdrückung. "Jerusalem gegen Babylon" zählt von nun an zum symbolischen Repertoire des Christentums.

Während Johannes der Täufer mit seinem Rückzug in die Wüste eine gewisse Kulturfeindschaft erkennen ließ, zog Jesus in die Stadt Jerusalem hinauf. Seine Botschaft vom nahen Reich Gottes drängte in die Öffentlichkeit. Paulus, selbst "Bürger einer nicht unbedeutenden Stadt" (Apg 21,39), lebte im Wissen, das erwartete himmlische "Gemeinwesen" sei bereits jetzt bei Gott im Himmel angebrochen (Phil 3,20). Ebenso spricht der Hebräerbrief mehrfach von der jenseitigen Gottesstadt (Hebr 11,9; 12,23). Nirgendwo in der Bibel sind jedoch die Bilder, in denen sich die Hoffnung auf die zukünftige Stadt, das himmlische Jerusalem, ausdrückt, so reich und so schön wie in der Johannesapokalypse.

Christentum und Stadt

Das Christentum ist, blickt man auf seine Anfänge, eine urbane Religion. Lebensraum der jungen Christenheit war die hellenistisch-römische Stadt. Die frühen Christen wurden als Stadtmenschen identifiziert, Nichtchristen hingegen "Dorfbewohner" (pagani) genannt - später ein Synonym für die Heiden. Trotz der Anpassung ans städtische Milieu wahrte die junge Kirche ihr Profil. Das Unterscheidende war die neue Lebensweise (keine ethnischen oder sozialen Schranken) und die christliche Nächstenliebe ("Option für die Armen"). Darum kann der Brief an Diognet (Ende des 2. Jh.) die Christen als die "Seele der Städte" bezeichnen.

Freilich gab es, wie die asketisch-monastische Bewegung zeigt, auch den Auszug aus der Stadt. Dass Kontemplation in der Stadt sehr wohl möglich ist, beweist die Existenz von Stadtklöstern (spätes 4. Jh.). Aber erst die Bettelorden des hohen Mittelalters (Dominikaner, Franziskaner) interpretierten das traditionelle Mönchsideal städtisch. In der Neuzeit entwickelten sich die Vollkommenheitslehre, die weitgehend monastisch orientiert blieb, und die städtisch bestimmte Lebenserfahrung zusehends auseinander. Die kirchliche Antwort auf die sozialen Herausforderungen, welche die Stadt des Industriezeitalters im 19. Jh. mit sich brachte, war zuerst praktisch tätige Caritas: Carl Sonnenschein (1876-1929) in Berlin, Hildegard Burjan (1883- 1933) in Wien. Später suchte man strukturell-sozialpolitisch (vgl. die päpstl. Sozialenzykliken) und institutionenorientiert (der Wiener Pastoraltheologe Heinrich Swoboda, 1923) nach Lösungen.

Welche Gestalt kann kirchliche Präsenz in der säkularisierten Stadt annehmen? Die klassische Territorialpfarre wird auch künftig nicht leicht ersetzbar sein. Daneben gibt es Erfahrungen mit einer CityPastoral als aktive Teilnahme an der City-Kultur und als religiöses Angebot in der City-Öffentlichkeit.

Ganz anders geartet ist das Modell der Jerusalem-Gemeinschaft als der Versuch eines kontemplativen Gemeinschaftslebens im großstädtischen Kontext. Hier ist die Stadt zentraler Bestandteil des spirituellen Programms: "Die eigentliche Wüste ist die Stadt". Ähnlich sieht Madeleine Delbrêl (1904-64) die Stadt als Ort geistlichen Lebens. Für die "Leute von der Straße" definiert sie die für Kontemplation notwendige Einsamkeit neu: "Die wahre Einsamkeit besteht nicht in der Abwesenheit der Menschen, sondern in der Anwesenheit Gottes."

Spiritualität der Stadt

Die Suche nach einer "Spiritualität der Stadt" setzt voraus, die Ambivalenz von Urbanität nicht nur von ihrer negativen Seite wahrzunehmen. Die Stadt kann auch Religion fördern. Gemäß der Bibel mit ihrer stadtkritischen Perspektive und den Visionen von der Stadt Gottes erscheint die Sozialgestalt der Stadt als "gleichnisfähig für Inhalte des Glaubens" (H.-J. Höhn): Die Stadt kann Ort und Medium geistlicher Erfahrungen sein. Eine produktive Verarbeitung moderner Urbanität durch die Kirche setzt Akzeptanz und geduldige Wahrnehmung der Zeichen der Zeit voraus. Urbane Spiritualität geht darum in die Stadt "hinein", nicht an ihr "vorüber."

Für christliche Spiritualität wird es entscheidend sein, das unruhige "Menschengemisch" nicht nur als hinderlich zu betrachten. Wer Gott in Stille und Gebet sucht, wird ihn auch im "Asphaltdickicht" finden und in Gemeinschaft, Glaubenszeugnis, Diakonie und Liturgie das Eigenste der Kirche zum "Wohl der Stadt" (Jer 29,7) einbringen.

"Die Stadt ist eine Sprache" - ein offenes System vieler verschiedener, nebeneinander erklingender Sprachen. Christliche Spiritualität hat im (babylonischen) Sprachengewirr dem (pfingstlichen) Verstehen zu dienen. Wenn die christliche Gemeinde das Symphonische im Blick behält, wird sie selbst ein Gleichnis für die kommende Stadt, deren Architekt Gott allein ist (Hebr 11,10).

Der Autor ist in Wien Seelsorger für Theologiestudierende sowie Lehrbeauftragter für Spirituelle Theologie an der Kath.-Theol. Fakultät.

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