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"Das 'Homo factus est' im Credo gründet also von Anfang an in der Liebesbeziehung des dreifaltigen Schöpfers. Es ist nicht erst die Antwort Gottes auf die Sünde eines ersten Menschenpaares."

Naturkatastrophen wie etwa die Erdbeben in Mittelitalien oder Vulkanausbrüche wie jüngst auf Bali konfrontieren mit dem Übel und Leid, - dem malum naturale - das den Menschen meist unvorhergesehen trifft. Sei es von außen, oder häufiger aus seinem eigenen Inneren, manchmal schon im Mutterleib. "Warum lässt ein gütiger und allmächtiger Schöpfer schreckliches Leid zu?" fragte anklagend schon Hiob, der gottesfürchtige Leidensmann der jüdischen Bibel. Und in hunderten von Artikeln, Büchern und in Diskussionsforen suchen Theologen die Frage zu beantworten. Das natürliche Leid, für Georg Büchner ist es der "Fels des Atheismus", für Karl Rahner "ein Stück der Unbegreiflichkeit Gottes", und für den jüdischen Religionsphilosophen Hans Jonas (1903-93) gilt, dass der gütige Gott das Leid nicht verhindert: "nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte." ("Der Gottesbegriff nach Auschwitz", 1987 )

Ich schließe mich Jonas an und gehe zuerst der Frage des Ursprungs des "natürlichen" Leides in der materiellen Welt nach. Die naturwissenschaftliche Antwort wird existenzielle Sinnfragen aufwerfen, die ihrerseits zu einem neuen schöpfungstheologischen und naturwissenschaftlich kompatiblen Denken aus der Trinität des Schöpfers anregen.

Gesetz und Zufall

Wir sehen wie die Lebenswelt sich in ungeheurer Kreativität entwickelt, sozusagen von innen heraus, in Versuchen und Irren, was die Evolution als ein gewaltiges Spiel erscheinen lässt. Die Spielregeln sind die unveränderlichen Naturgesetze, aber den Spielverlauf dirigiert der Zufall. Mit Zufall ist hier einfach ein unvorhersehbares Ereignis gemeint. Zufallsereignisse ermöglichen das überraschend Neue der Evolution, aber auch ihre Irrungen und Wirrungen, Konflikte, organische Schwachstellen, Krankheiten und Bedrohungen im Daseinskampf. Kurzum, der Zufall, ohne den Evolution nicht möglich wäre, wird zur Ursache des Leides, das Mensch und Tier in der Natur trifft.

Die Rolle des Zufalls müsste daher für eine moderne Schöpfungstheologie von Bedeutung sein, wird aber meist mit der "dogmatischen" Aussage beiseite geschoben, dass es "für Gott keinen Zufall gibt". Hat doch auch Einstein gesagt: "Der Alte würfelt nicht!" Auch die alltägliche Naturerfahrung scheint dieser Auffassung recht zu geben, denn die Unvorhersehbarkeit eines Zufalls beruht bei näherer Untersuchung meist auf der Begrenztheit unserer Einsicht in die ursächlichen Prozesse, die zu diesem Ereignis geführt haben. Natürlich existiert dieser erkenntnisartige (epistemische) Zufall nicht für Gott! Warum hat Gott dann aber nicht alles unter Kontrolle und fein geregelt, wie wir in alten Kirchenliedern singen? Die Antwort gibt die Physik des 20. Jahrhunderts mit der Entdeckung des absoluten Zufalls. Er ereignet sich in der atomaren und subatomaren Welt der Quantenphysik und in der unseren Sinnen zugänglichen Makrowelt sogenannter nicht-linearer Systeme. Die Quantenprozesse sind nur statistisch erfassbar und im Einzelereignis dem vorhersehenden Erkennen eines jeden in unserer Raum-Zeit agierenden Geistes entzogen. Der Quantenzufall ereignet sich vor allem im Erbmaterial auf der molekularen Ebene der Gene.

Der absolute, d. h. auch für den schöpferischen Logos nicht vorhersagbare Zufall, kann auch (aber muss nicht) in Makroprozessen auftreten, deren Mathematik nicht-linear ist, Wirkung also nicht proportional der Ursache ist, und wenn außerdem das betreffende System in einen instabilen Zustand gerät. Im Streben nach neuer Stabilität kann sich dann der Prozessverlauf verzweigen, sogenannte Bifurkationen bilden, in denen der Zufall steckt. Dieser absolute Zufall verursacht zum Beispiel plattentektonisch Erdbeben, und verhindert jede genauere Vorhersage von Zeitpunkt, Ort und Stärke des Bebens.

Wohl häufiger ereignet sich der absolute Zufall im Inneren des Menschen. Sein Organismus funktioniert als ein sogenanntes offenes komplexes System, das aus einer Vielzahl nicht-linearer physikalisch-chemischer Prozesselemente besteht, die mit der Umgebung Energie und Material austauschen und damit ein balanciertes gemeinsames Funktionieren der Einzelprozesse ermöglichen. Dieses innere funktionale Gleichgewicht des komplexen Systems kann durch Änderungen in den Umweltbedingungen gestört werden, so dass das System nach neuer Stabilität streben muss. Diese Stabilisierungsprozesse können von strukturellen Änderungen und möglicherweise sogar von Neuorganisationen im System begleitet sein. Die Folgen mögen dem betroffenen Individuum unbemerkt bleiben, können ihm zu Vor-oder Nachteil gereichen, oder aber auch zu schwerem Leid und Tod.

Derartiger Leidenskeim steckt mit dem absoluten Zufall in der offenen Komplexität des menschlichen Organismus. Und da die innere Komplexität des Menschen mit ihrer Offenheit zur Umwelt ein Faktum ist, ganz unabhängig vom tatsächlichen Verlauf der Evolution, ist natürliches Menschenleid unvermeidlich.

Neue Natürliche Theologie

Man mag sich fragen, wie christliche Glaubenspraxis natürliches Leid des Menschen als "Lohn der Sünde" sehen kann, wenn es Folge eines unvermeidlichen absoluten Zufalls ist. Aber die philosophische und theologische Relevanz der Entdeckung des absoluten Zufalls in der modernen Physik geht weit über eine solche Einwendung hinaus und öffnet der christlichen Theologie neue, und wie ich glaube, gewaltige und beglückende Perspektiven, die das alte Katechismusbild vom statischen, unveränderlichen, alles voraussehenden und planenden Schöpfer verblassen lassen.

Einer neuen Natürlichen Theologie öffnet sich ein Verstehen des Evolutionsgeschehens aus der Dreieinheit des Schöpfers: Der göttliche Logos (die Vernunft, das Wort) lässt in innigster dreifaltiger Einheit mit der göttlichen Liebe die Welt des Lebens sich entfalten. Die innergöttliche Liebe (1 Joh 4,16; 3,16; 4,10) überträgt sich "im unendlichen Überfluss ihrer Fülle"(Richard. von St. Viktor) auf die entstehende Welt als einem von ihr Geliebtem, das sich selbst entwickeln und entfalten soll, zu immer Neuem und Überraschendem. Für den Menschen bedeutet dies Freiheit: Er kann sich als ein Zufallsprodukt der Evolution verstehen, oder als von Anfang an gewolltes Geschöpf der Liebe.

Gott der Logos ermöglicht durch den absoluten Zufall die Eigenentwicklung, die laufend auch für ihn Neues und Neues-Gebärendes entstehen lässt. Der Gedanke einer Art von Werdewelt ist nicht neu. Schon 400 Jahre vor Darwin vertrat Kardinal Nikolaus von Kues (in "De possest", 1460) die Meinung, dass Gott nicht fertige, sondern werdende Seienden schuf, die sich selbst verwirklichen und andere Seienden hervorbringen konnten.

Gottes Menschwerdung

Die Werdewelt lässt also Gott selbst Neues erfahren. Er, der Leidlose kann auch das Leid erfahren, das Mensch und Tier in der Natur trifft und das der Mensch auch sich selbst und anderen antut. Er kann dies erfahren, weil die Liebe den Logos mit-leiden lässt.

Es liegt im Wesen der Liebe, dass sie nach Vereinigung mit dem Geliebten strebt. Johannes verkündet die Verwirklichung dieses Wollens der göttlichen Liebe mit dem lapidaren Satz (Joh 1,14):"Und das Wort (der Logos) ist Fleisch geworden und wohnte unter uns." Johannes lässt in seinem Evangelium keinen Zweifel, dass Jesus von Nazareth, der Christus, diese Inkarnation des Logos ist, und seine Auferstehung aus dem Totenreich der Urgrund christlicher Hoffnung ist.

Das "Homo factus est" im Credo der Christen gründet also von Anfang an in der Liebesbeziehung des dreifaltigen Schöpfers. Es ist nicht, wie vorherrschende Glaubenspraxis annimmt, erst die Antwort Gottes auf die Sünde eines ersten Menschenpaares. So verstand die Menschwerdung Gottes bereits im Hochmittelalter die franziskanische Theologie, deren Philosoph und Theologe Johannes Duns Scotus (1266-1308) sich der naheliegenden Frage stellte: "Wäre Gott auch Mensch geworden, wenn das erste Menschenpaar nicht gesündigt hätte?" Und er antwortete mit einem eindeutigen Ja: "Ich antworte: Allgemein sagen die Lehrer und die Heiligen, dass das nicht so wäre, Ich sage dennoch, in ehrerbietigem Wissen um diese Heiligen und Lehrer, dass dem nicht so ist; im Gegenteil: der Sohn Gottes wäre Mensch geworden und hätte die menschliche Natur so angenommen, wie es berichtet wird, sobald der Mensch existierte "

Wie sehen dies heute akademische Theologen? U.A.w.g.

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