"Gottes ist der Orient! Gottes ist der Okzident!"

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Gute Voraussetzungenhat der Islam, um mit der säkularisierten Gesellschaft zurechtzukommen. Notwendig ist die Auseinandersetzung mit der europäischen Kultur.

Der Islam enthält in seinem Lehrgebäude und vor allem im Leben seiner Anhänger mehr säkulare Elemente als man sich je vorgestellt hat. Er ist zwar eine Offenbarungsreligion, die folglich - ähnlich den beiden anderen monotheistischen Religionen ihre Lehre im göttlichen Anspruch begründet, doch durch die auf den Menschen Muhammad (571- 632) zurückgehende Tradition als zweite Lehrquelle sind viele säkulare Elemente in ihn hineingeflossen.

Der menschliche Anteil an der Entstehung der Scharia - des Gesamtkorpus der islamischen Lebensregeln - ist nicht zu übersehen: 80 bis 90 Prozent der Scharia ist ein Überbau des Islam, der aus dem Koran als der Grundquelle und der Tradition abgeleitet worden ist. Sie ist also nicht der Islam per se. Erst recht tritt die menschliche Komponente in der islamistischen Modernisierung zutage.

Der Islamismus, vielfach als islamischer Fundamentalismus verstanden, kommt einer menschlich geprägten Ausweitung der Glaubenslehre gleich. Schon der Name der neuen Glaubensrichtung verrät ihren Charakter: nicht der Islam reiche aus, um das Heil zu erlangen; zusätzliche Glaubensformen seien dazu notwendig. Es müsse vor allem das Leben totalisiert oder nach Vorstellungen der Urheber "islamisiert" werden. Wissenschaft, Literatur, Kunst, Wirtschaft, Bankenwesen und so weiter müssen dem neuen Prozess unterworfen werden.

Häufig ist der rigide Traditionalismus der stille Partner der Islamisten. Dann kommt es zur Abschaffung gewisser Kunstformen, wie der Musik, des Tanzes und der Architektur, oder zivilisierter Formen des Lebens, wie der Achtung der Menschenwürde, des Tierschutzes, des Kinobesuches und der Benutzung des Fernsehens. Dafür hat das inzwischen gestürzte Taliban-Regime genug Beispiele geliefert.

Gute Voraussetzungen

Die Ausschaltung der Vermittlerrolle zwischen Gott und Mensch durch die Priesterschaft, die Verneinung der Erbsünde, die Ablehnung von Sakramenten, die Nichtexistenz des Klerus und der zivilrechtliche Charakter der Ehe sind eigentlich gute Voraussetzungen des Islam, um mit einer säkularisierten Gesellschaft klaglos zurechtzukommen.

Der Mensch wird im Islam heute noch vor allem in seiner Geschöpflichkeit gesehen. Durch Auferlegung von einem ausgedehnten Netz von Verpflichtungen und Detailvorschriften werden seine freien Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt.

Die Argumentierungsmethoden der islamischen Religionslehre gehören immer noch zum vorwissenschaftlichen Zeitalter.

Die Renaissance hat in Europa eine Freigabe der positiven menschlichen Schaffenskräfte und Öffnung von neuen Bildungshorizonten bedeutet. Diese Dimensionen scheinen im heutigen Islamvollzug zu fehlen oder werden von der Religion übertüncht. Der Glaubensvollzug erschöpft sich in der Nachahmung der Vorfahren im Glauben. Im gottesdienstlichen Bereich ist er vielfach eine Routine; im öffentlichen Leben versteht sich der Islam, wie das aus dem Benehmen vieler Muslime zu ersehen ist, als Politikum.

Die Extremisten scheuen sich nicht davor, ihn zur Rechtfertigung von Gewalt und Terror in den Mund zu nehmen. Mit Rückblick auf ihre Erstzeit und ihre Wiege lassen sich die Probleme einer Religionsgemeinschaft nicht lösen. Die Religiosität muss ihren Selbstwert haben. Aber auch der Gläubige muss sich jeweils neu bewähren. Die Nachahmung begünstigt keine Orientierung nach den Werten. Eine solche ist aber die Pflicht des Menschen, gleich ob Muslim oder Nichtmuslim, will er seinem Auftrag als Stellvertreter Gottes auf Erden gerecht werden.

Der Gläubige ist ausdrücklich aufgerufen, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Im Koran (Sure 53, Vers 39) ist zu lesen : "Dem Menschen steht lediglich das zu, was er sich durch seinen eigenen Einsatz erarbeitet hat."

Der Ruf "Zurück zu den Quellen!", der die islamische Welt unserer Zeit bewegt, kann in einem säkularen Europa nur als Aufforderung zur kritischen Sichtung des religiös-kulturellen Erbes und zur Beseitigung des fortschritthemmenden historischen Ballastes, der sich im Laufe der Jahrhunderte in ihm abgelagert hat, verstanden werden. Der Rückgriff auf die Quellen, wenn er in autonomer und sachlicher Weise vorgenommen wird, kann kaum fundamentalistische Ausformungen entstehen lassen. Zu erwarten ist vielmehr ein geläutertes Koran-Verständnis und eine kritischere Einstellung zur Tradition und dem, was darunter verstanden wird. Es steht absolut im Einklang mit dem islamischen Selbstverständnis, eine stärkere Betonung der universalistischen Dimension des Islam anzustreben. Sieht doch der Islam im Judentum und Christentum seine älteren Erscheinungsformen.

Ein so strukturiertes Religionsverständnis müsste dazu führen, dass die zeit- und situationsbedingten Aussagen, Empfehlungen und Anordnungen der Erstquellen relativiert und modernen Fragestellungen zugänglich gemacht werden.

Nicht ohne Christentum

Der Islam der alteingesessenen muslimischen Gemeinschaften in Europa artikuliert sich seit mehr als einem Jahrhundert lediglich in der Glaubenslehre, der Pflichtlehre (dem Ritus) und der Sittenlehre. So verstanden und gelehrt kann er unmöglich etwa als eine fremde, "aggressive" Religion hingestellt werden. Übrigens hat die moderne Islamforschung, vertreten durch den großen deutschen Orientalisten Carl Heinrich Becker, nachgewiesen, dass der Islam, der an Europas Tore klopft, mit Europa gemeinsame kulturelle Wurzeln teilt. Wie immer man das säkulare Europa von heute versteht, Tatsache ist, dass die europäische Kultur entscheidend vom Christentum geprägt ist.

"Wir, die Europäer", meint der Jude Maxime Rodinson, "sind alle hier in die Kirche eingebunden". Die Frage nach dem islamischen Zeugnis für Gott in einem solchen Europa muss daher in irgendeinen Zusammenhang mit dem Christentum gebracht werden. Der verdichtete Kontakt mit den Muslimen, die sich im Laufe der letzten Jahrzehnte in Europa eingefunden haben, bietet die einmalige Gelegenheit, die geistige Entwicklung des Islam in Richtung Aufklärung zu befruchten.

Durch einen sinnvoll gestalteten Religionsunterricht in den Schulen könnte wenigstens eine regional begrenzte Generation von Gläubigen entstehen, die einem offenen und demokratischen Islam verpflichtet ist. Dazu ist es erforderlich, dass der Mensch - ganz im Sinne des Koran - im Religionsunterricht bewusst als Stellvertreter Gottes auf Erden hervorgehoben wird. Er ist somit Träger eines Schöpfungswillens und Inhaber einer religiös verbrieften Würde.

Durch das neugeförderte Menschenbild wird die heranwachsende muslimische Jugend endgültig für die Aufklärung gewonnen. Der unausbleibliche Dialog mit der Umwelt, darunter auch den Kirchen, wird dieses Potenzial ständig stärken. Der Dialog, und nicht der Hass, ist eine ethische und aus der Sache herauswachsende Forderung der globalisierten Welt, in der es prinzipiell keinen Unterschied zwischen Ost und West gibt. "Gottes ist der Orient - Gottes ist der Okzident" (Koran 2,115). Diese Weisheit dürfte man nicht aus den Augen verlieren.

Der Autor,gebürtiger bosnischer Muslim, ist Kulturhistoriker und Islamgelehrter (u. a. war er Chefredakteur von "Islam und der Westen"). Bali´c lebt in Niederösterreich.

Buchtipp

Pflichtlektüre für Europäer

In seiner Jugend in Bosnien, so der heute 80-jährige Smail Bali´c, habe der Islam "als Quelle des Friedens und als Seelenheil in Notlagen" gegolten. Nicht zuletzt durch die Auseinandersetzungen am Balkan kam es aber zur Renaissance eines "harten Islam", der mit dem Glauben seiner Vorväter wenig gemein hatte. Smail Bali´c knüpft in seinem neuen Buch "Islam für Europa", an die Tradition eines europäischen Islam an und argumentiert leidenschaftlich und kompetent für einen Islam, der sich in eine moderne, demokratisch-pluralistische Gesellschaft befruchtend einfügt. ofri

ISLAM FÜR EUROPA. Perspektiven einer alten Religion. Von Smail Bali´c. Böhlau Verlag, Köln 2001. 262 Seiten, kt. e 26,45/öS 364,-

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