Welche Glaubens- ,also Existenz fragen stellen die Anschläge von Paris? Ich sehe vor allem zwei. Was bin ich bereit, für die Verteidigung einer freiheitlichen Gesellschaft zu tun? Die demokratischen, menschenrechtsbasierten Verfassungen sind in langen, leidvollen Kämpfen erstritten worden. Meine Generation hat sie geschenkt bekommen. Was bin ich bereit, für sie zu tun: gegen religiösen Terror, gegen angstgetriebene Identitätskonzepte, gegen eine "Sicherung der Freiheit", die sie verspielt, gegen eine rassistische Halbierung der Menschenrechte, gegen eine rein ökonomistische Interpretation von "Freiheit"?
Die andere Glaubensfrage aber ist: An welchen Gott glaube ich? Im letzten Herbst war Mouhanad Khorchide in Graz. Er sprach zu "Islam ist Barmherzigkeit": Dass die Barmherzigkeit, verstanden als bedingungslose Zuneigung Gottes zum Menschen, der Kern des islamischen Glaubens sei, dass deshalb, wer den Menschen entwürdigt in Wort und Tat, Gottes Projekt eine Absage erteile, und dass das einzige, wozu Gott sich verpflichte und uns verpflichte, Barmherzigkeit sei. - Paulus, der bekehrte Gotteskrieger, hat es christlich "auf den Begriff gebracht: Gott zeigt sich im entstellten Antlitz des Opfers. Er trägt die Wunden des Gefolterten. Er teilt die Schmerzen der Verwundeten. (...) Der Puls des Glaubens schlägt dort, wo das Wissen erwacht, dass Gott seine Feinde liebt (vgl. Röm 5,5ff)", so der Neutestamentler Thomas Söding.
Das ist die Gretchenfrage an alle Verehrer Gottes: Ob sie die leise, die zarte Botschaft von der Verletzlichkeit, Bedürftigkeit, Verwundbarkeit des Menschen und von Gottes Angebot seiner befreienden Barmherzigkeit Geltung verschaffen gegen die lauten Stimmen narzisstischer Selbstvergottungsmächte. Die gibt es außerhalb der Religionen, aber leider gerade auch in ihnen selbst.
Der Autor ist katholischer Pastoraltheologe an der Universität Graz
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