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Haben Tiere Moralvorstellungen?

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Die Evolution hat die Voraussetzungen für Moral geschaffen", behauptet der bekannte niederländische Primatenforscher Frans de Waal in seinem jüngsten Buch „Der gute Affe". Zahlreiche Beobachtungen zeigten, daß höher entwickelte Tiere verblüffend menschliche Verhaltensweisen an den Tag legen, die im Bereich der Moralität beheimatet sind. Moral ist demnach nicht nur eine kulturelle und somit typisch menschliche Erscheinung, sondern verfügt über Wurzeln, die weit zurück in die Entstehungsgeschichte des horno sapiens zurückreichen.

Diese These rührt an einem fundamentalen Grundsatz vieler heutiger Wissenschaften: der strikten Trennung von Natur und Moral. Allgemein herrscht dort ein Menschenbild ähnlich jenem vor, wie es Sigmund Freud in seiner berühmten Abhandlung „Das Unbehagen in der Kultur" gezeichnet hat: Der Mensch ist von Trieben und Instinkten geleitet, nur durch soziale Normen können diese unter Kontrolle gebracht werden. Den archaischen Instinkten des Menschen werde demnach durch Vernunft oder Religion ein Riegel vorgeschoben. Moral ist gleichbedeutend mit „Triebverzicht". Zwischen Moral und Natur herrscht eine unüberbrückbare Kluft.

Sozial- und Geisteswissenschaftler etwa pflegen jeglichen Zusammenhang zwischen den Genen und dem geistigen Leben des Menschen zu negieren. Einzig und allein Kultur und soziales Umfeld bestimmten das Individuum, betonen sie. Anderslautende Meinungen werden mit dem Verweis auf Rassenideologien kaltgestellt. Was Moral und Ethik betrifft, besteht auch die Naturwissenschaft auf einer deutlichen Abgrenzung: Der Altdarwinist Thomas 11. Huxley bezeichnete im Jahre 1893 die Natur als „tückisch und gleichgültig und beschrieb Moral als das vom hämo sapiens geschmiedete Schwert, um den Drachen seiner tierischen Herkunft zu schlachten" (de Waal). Für die meisten Biologen gilt das noch heute.

Als einzige Antriebskraft von Tieren zählt gemeinhin der Trieb, sich im „Kampf ums Dasein" gegen alle anderen zu behaupten und sein Erbmaterial mittels Fortpflanzung weiterzugeben. Doch in der Tierwelt ist es weit verbreitet, Artgenossen auf eigene Kosten und Gefahr zu helfen: Der Rufeines Murmeltieres warnt die anderen vor einem Raubvogel, macht diesen jedoch auf den Rufer aufmerksam; Delphine geleiten verletzte Artgenossen an die Wasseroberfläche, damit sie nicht ertrinken. „Wir sehen uns dem zutiefst verwirrenden Paradox gegenüber, daß die genetische Weiterentwicklung auf Kosten anderer - die Haupttriebkraft der Evolution - ausgeprägte Fähigkeiten der Fürsorglichkeit und des Mitfühlens hervorgebracht hat", schreibt de Waal.

Nicht nur Egoismus

Dieser erstaunliche Altruismus wird von vielen Biologen darauf zurückgeführt, daß Gefälligkeiten und Hilfe auf strikter, wenn auch sehr langfristig angelegter Gegenseitigkeit beruhen und daher allen Beteiligten im evolutionären Kampf ums Überleben nutzen („reziproker Altruismus") oder daß es aus genetischer Sicht kaum eine Rolle spiele, welches Individuum einer Familie sich fortpflanzt; wenn Tiere nahen Verwandten helfen, helfen sie gewissermaßen ihren eigenen Genen. („Verwandtenselektion").

Doch de Waal zeigt, daß zeigt es in der Tierwelt, vor allem bei Menschenaffen, Phänomene gibt, bei denen diese Erklärungen viel zu kurz greifen. Viele Verhaltensweisen widersprechen einem totalen Egoismus: j Integration von Behinderten: Behinderte Mitglieder von Affenhorden werden mit besonderer Toleranz, Fürsorge und Umsicht behandelt. ü Trauer um Verstorbene: Elefanten bedecken tote Artgenossen mit Zweigen und kehren noch Jahre später dorthin zurück, wo ein Verwandter gestorben ist, und berühren die Überreste.

Schuldgefühle: Makakenmänn-chen, die heimlich mit den dem Hordenführer vorbehaltenen Weibchen kopuliert haben, legen diesem gegenüber ein besonders unterwürfiges Verhalten an den Tag - obwohl sie genau registriert haben, daß ihm die Seitensprünge seiner Haremsdamen verborgen geblieben waren.

Schlichtung: In vielen Schimpansengruppen nimmt ein bestimmter Affe im Fall von Konflikten die Rolle eines unparteiischen Schiedsrichters ein. Manche Schimpansinnen wiederum konfiszieren Steine oder ähnliche Waffen, mit denen ein aufgebrachtes Männchen auf einen Rivalen einschlagen will.

Solidarität: Müssen Schimpansen in Gefangenschaft auf engem Raum zusammenleben, tun sich die Frauen zusammen, um sich gegen zudringliche Männer zu wehren, denen sie bei mehr Platz einfach aus dem Weg gehen würden.

Teilen: Wenn Schimpansen - was eher selten vorkommt - Tiere fangen, teilen sich alle die Beute in einer Art Fest, selbst die Rangniedrigsten kommen zum Zug. In Käfigen gehaltene Kapuzineraffen teilten ihre Essensration freiwillig mit Nachbarn,' die nichts zu essen bekamen.

„Es gibt Augenblicke, in denen wir menschliche Beobachter uns des Gefühls nicht erwehren können, daß die Gemeinschaft sich an irgendeine Art moralischer Ordnung hält", schreibt de Waal über Gruppen von Menschenaffen. Tatsächlich scheint es so etwas wie moralische Entrüstung zu geben, wenn einzelne Affen bestimmte Regeln brechen:

Als Jimoh, der Anführer einer Schimpansengruppe ein jüngeres Männchen ungebührlich streng für ein Vergehen bestrafte, protestierte der Rest der Gruppe mit lautstarkem Gebrüll, bis der Oberschimpanse eingeschüchtert von seinem Opfer abließ. „Er ist einfach zu weit gegangen", interpretiert der Primatenforscher dieses Verhalten.

Die Schimpansin Puist, die ihren Freund Luit bei Streitigkeiten stets zu Hilfe kam, reagierte wütend, als ihr der Undankbare eines Tages nicht zu Hilfe eilte: Wütend jagte sie Luit durch das ganze Gehege und trommelte sogar mit den Fäusten auf den viel stärkeren, aber wohl von Gewissensbissen geplagten Luit ein.

Der Kern der Moral

„Angehörige derselben Spezies können zu einer stillschweigenden Übereinkunft gelangen, welches Verhalten sie dulden oder aber verbieten", hat de Waal herausgefunden - Regeln, die freilich erlernt sind und von Sippe zu Sippe verschieden sein können. „Ich zögere, die Angehörigen irgendeiner Spezies außer unserer eigenen als moralische Wesen zu bezeichnen", bekennt de Waal, „doch glaube ich, viele der Gefühle und kognitiven Fähigkeiten, die der menschlichen Moral zugrunde liegen, reichen in eine Zeit vor dem Auftauchen unserer Spezies auf diesem Planeten zurück." Den Ursprung des Ideals von Gerechtigkeit und Fairneß etwa sieht de Waal im Teilen von Beute, wie es etwa Schimpansen praktizieren.

Gemeinschaftsinteresse habe evolutionär seine Ursache im ureigenen Interesse jedes einzelnen an einem sozialen Umfeld, das seinem Überleben und seiner Beproduktion am förderlichsten ist, erklärt der Primatenforscher. Ungehemmte Konkurrenz innerhalb der Gruppe schadet ihr nur. Vor allem Menschenaffen scheint klar zu sein, „wie Ereignisse um sie herum sich durch die Gemeinschaft fortsetzen, bis sie vor ihrer Tür landen", schreibt de Waal: „Bewußtes Gemeinschaftsinteresse ist [aber auch] der Kern menschlicher Moral." Sicher, Tiere seien nicht fähig, ihre Grundsätze in Worte zu fassen oder gar über deren Berechtigung zu diskutieren, schränkt der Ethologe ein; „Tiere sind keine Moralphilosophen. Aber wie viele Menschen sind das schon?"

Der gute Affe

Von Frans de Waal

Carl Hanser Verlag, München und

Wien 1997. 328Seiten. öS364.-

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