Harte Herzen weich machen

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Nicht lange ist es her, daß am musikalischen Schaffen Hildegards von Bingen ein reges Interesse zu erwachen begann: Auch Hildegard wurde zu einem jener lukrativen Leitbilder, mit denen die moderne Tonträgerindustrie werbewirksam ihre neueste Kreation, den "Mystik-Pop", zu verkaufen trachtete. Die Wahl fiel nicht von ungefähr auf diese ungewöhnliche Frau. Sie faszinierte spätestens im Zuge der Esoterik-Bewegung wie kaum eine andere Figur des Mittelalters als Alternativmedizinerin, Naturheilkundlerin, Naturwissenschafterin und Theologin und wurde von amerikanischen Feministinnen überdies zur Patronin gekürt.

"Mulier taceat in ecclesia." Dieses Diktum aus dem 1. Korintherbrief verdammte die Frauen für lange Zeit zum Schweigen im kirchlichen Raum. Verstärkt wurde diese Haltung noch durch die allgemeine frauenfeindliche Einstellung der Kirche und ihrer Vertreter. So vertrat der heilige Hieronymus die Ansicht, die Mädchen mögen den Instrumenten gegenüber taub sein und unwissend bleiben, warum etwa die Leier und die Flöte angefertigt wurden.

Nur wenige Mädchen, nämlich jene adeliger Herkunft und solche aus höheren Schichten, kamen in den Genuß einer Ausbildung in Musik, die an vielen Klosterschulen als eine der sieben freien Künste, das heißt neben Geometrie, Arithmetik, Grammatik, Rhetorik, Dialektik und Astronomie unterrichtet wurde. Frauenklöster waren dabei jene Bildungsinstitutionen, in welchen den heranwachsenden Frauen nicht nur die Möglichkeit zur musikalischen Betätigung geboten wurde, sondern in denen sie auch eine allgemeine Schulbildung erfuhren. Das tägliche mehrstündige Singen, insbesondere des gregorianischen Chorals, wurde ein wesentliches künstlerisches Ausdruckmittel für Frauen.

In der klösterlichen Abgeschiedenheit entstanden so manche künstlerischen Leistungen von Frauen, die erst in den letzten Jahren die ihnen gebührende Beachtung fanden. Zu diesen zählt ohne Zweifel auch die "rheinische Sybille" - Hildegard von Bingen - die als Komponistin in der Musikgeschichte des Mittelalters wohl als einzigartig zu bezeichnen ist.

Ihr musikalisches Schaffen wurde nach achtjähriger Vorbereitungszeit erstmals vor 30 Jahren im Salzburger Otto Müller-Verlag herausgegeben. Diese verdienstvolle Publikation basierte auf einer vollständigen Abschrift der Wiesbadener Handschrift, welche die Benediktiner Ordensschwester Pudentiana Barth angefertigt hatte, wobei sie die Neumen in Choralnotation übertrug.

Hildegard von Bingens Visionen, die sie immer im wachen Zustand erlebte, können als auslösend für ihre künstlerische Betätigung vermutet werden. Immer wieder spricht sie von einem Licht, welches sie in ihrem literarischen und musikalischen Schaffen prägte. Wenn sie die himmlischen Botschaften empfing und ihre Schwestern sie dabei umhergehen sahen, berichteten sie von einem unbeschreiblichen Leuchten, das auf Hildegards Gesicht gelegen habe. "Ich sehe diese Dinge nicht mit den äußeren Augen und höre sie nicht mit den äußeren Ohren ... das Licht, das ich schaue, ist nicht an den Raum gebunden."

Ihre himmlischen Eingebungen beschränkten sich demnach nicht nur auf optische Sensationen, sondern bezogen auch akustische Elemente mit ein. Über das Akustische erschließt sich der jungen Benediktinerin der Sinn des Wortes in der Liturgie. Das Gehör, meint sie, sei in der Tat der Anfang der vernünftigen Seele.

"Gesang und Melodie habe ich zum Lobe Gottes und der Heiligen ohne Unterricht von seiten irgendeines Menschen hervorgebracht und gesungen, obwohl ich niemals eine Neume oder irgendwelchen Gesang erlernt hatte." Hildegard von Bingen, die in moderner Terminologie wohl als Autodidaktin zu bezeichnen wäre, hinterließ ein musikalisches Îuvre von erstaunlicher Geschlossenheit.

Ihre hochexpressiven Kompositionen notierte sie der Zeit gemäß in Neumen, die nur die relative Tonhöhe, nicht jedoch den Rhythmus fixierten. Im Kompositionsstil war sie jedoch ihrer Zeit weit voraus, indem sie in ihrer Melodiegestaltung den Rahmen der gregorianischen Tradition überschritt: sie hielt sich nicht an die Kirchentonarten, selten wiederholte sie eine Melodie in derselben Weise. Weitere Charakteristika ihrer Musik sind extreme Intervallsprünge, ein großer Tonumfang, die Auflösung starrer Gattungsformen und häufige Verwendung von Melismen, das sind kunstvolle Tonfolgen auf einer Sprachsilbe. Hildegard von Bingen muß demnach auch über gesangspädagogische Kenntnisse verfügt und ihre Schwestern jene professionelle Atemtechnik gelehrt haben, die für eine adäquate Interpretation unerläßlich ist.

Es wundert nicht, daß Hildegard von Bingen, deren naturwissenschaftliche und medizinische Erkenntnisse heute wieder Beachtung finden, sich auch der therapeutischen Funktion von Musik bewußt war: Wenn "Mißklänge" Krankheit auslösen könnten, so müßten dementsprechend Wohlklänge der Gesundung förderlich sein. In ihrem Hauptwerk "Scivias", lesen wir: "Gesang macht harte Herzen weich. Er lockt die Tränen der Reue hervor und ruft den Hl. Geist herbei."

42 Jahre ist Hildegard von Bingen alt, als sie zum ersten Mal den inneren Befehl erhält "sage und schreibe nieder, was du siehst und hörst". Damit beginnt für sie jene Lebensphase, die sie über ihre Zeit hinaus unvergessen machen sollte.

Ihr Visionswerk, ein Gesamtwerk, welchem durchaus der Charakter einer theologischen Summa zukommt, entsteht. Darunter finden wir auch ihre Kompositionen: die "Symphoniae harmoniae caelestium revelationum" (Symphonie der Harmonie der himmlischen Offenbarung) und 77 Lieder, Loblieder auf göttliche Tugenden, Aposteln und Heilige, wobei sich unter den Lobgepriesenen überwiegend weibliche Figuren - allen voran die heilige Maria und die heilige Ursula - finden. Das Herausragende dieser Musik wird bereits zu ihren Lebzeiten von Kirchenmusikern anerkannt. Besondere Erwähnung verdient ihr geistliches Mysterienspiel "Ordo Virtutum", welches aufgrund der Lebendigkeit der Sprache und Musik die Entstehungszeit gänzlich vergessen macht.

Da Singen als göttlich und himmlisch galt, kam im "Spiel der Kräfte" dem Teufel nur die Sprechrolle und jene des Lärmens und Kreischens zu. Übernommen wurde diese "Partie" vermutlich vom Mönch Volmar, dem einzigen Mann im Kloster, der als ihr Sekretär fungierte, während die im Kloster Rupertsberg lebenden Frauen die Rolle der "virtutes", der göttlichen Kräfte, übernahmen. Fahrende Spielleute ergänzten die aufwendige "Besetzung". (Die dramatische Wirkung dieses vier Szenen umfassenden Werkes läßt sich mittlerweile auf Tonträger in einer aufregenden Interpretation des 1977 durch Barbara Thornton gegründeten Ensembles "Sequentia" nacherleben.)

Die Aura, die von Hildegard von Bingens faszinierender Persönlichkeit ausstrahlt, dürfte wohl auch den amerikanischen Produzenten und Komponisten Richard Souther bewogen haben, sich ihrer Musik anzunehmen, die er mit aktuellen Sounds und Computerklängen vermischt. Auf der CD "Illumination" wird das meditative Klangerlebnis überdies mit irisch-keltischen Klängen ergänzt. Bei den 18 Stücken auf der CD "Vision" finden sich auch noch Elemente der Popmusik, der esoterischen Meditationsmusik, vermischt mit Technoklängen. Diese Einspielung, die zwar mit der Vorlage kaum mehr etwas zu tun hat, erreichte in den USA innerhalb nur weniger Wochen eine Auflage von einer Viertel Million, und damit Platz 1 der Hitliste.

Wie zu Lebzeiten verblüfft die "prophetissa teutonica" noch heute durch ihr profundes Wissen, ihre fortschrittlichen Ansichten und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, aber auch durch ihre auffallend eigenständige Tonsprache, die der Zeitgenosse Odo von Paris zu Recht als "Weisen eines neuen Liedes" bezeichnet hat und die auch in ihrer originalen Klanggestalt nichts an Attraktivität eingebüßt hat.

Die Autorin ist Musiksoziologin (Forschungsschwerpunkt "Frau und Musik")an der Wiener Musikhochschule.

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