Herr Clinton, was würden Sie an meiner Stelle tun?

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Brief Mitri Rahebs, Pfarrer aus Betlehem, über seine Erfahrungen zum Zusammenleben von Israelis und Palästinensern

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Brief Mitri Rahebs, Pfarrer aus Betlehem, über seine Erfahrungen zum Zusammenleben von Israelis und Palästinensern

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Herr Clinton, was würden Sie an meiner Stelle tun." Mit dieser klaren Frage beginnt ein Brief, den Mitri Raheb, evangelisch-lutherischer Pfarrer von Bethlehem und Herr über die weltbekannte "Weihnachtskirche", an den gerade abgetretenen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika geschrieben hat. Ein Brief als Ausdruck der Verzweiflung über eine Situation, die Madji Al-Syriani, der katholische Pfarrer von Beit Sahour, dem Stadtteil auf den ehemaligen Hirtenfeldern - Haus der Wachenden genannt - so beschreibt: "Wir hier in Bethlehem - im Haus des Brotes - leben in einem großen Gefängnis, zwischen vier oder fünf israelischen Checkpoints. Wir, das sind etwa 150.000 Menschen, die auf etwa drei Quadratkilometern zusammengepfercht sind, sich nicht frei bewegen können und von allen anderen Städten abgeschnitten sind." Diese Situation ist das Resultat einer jahrzehntelangen Entwicklung, das Resultat des Friedensvertrags von Oslo, von dem eine orthodoxe Christin meint: "Die Friedensverhandlungen von Oslo waren unsere große Hoffnung. Das Ergebnis war Emmentaler-Käse - Wir haben die Löcher bekommen." Die Westbank - ein Landgebiet, viel kleiner als Österreich, wurde in drei Zonen geteilt: eine "Homelandisierung" der besetzten Gebiete, ausgedrückt in 256 von israelischen Truppen besetzten Checkpoints, Straßensperren, die die Bewegungsfreiheit der Palästinenser, nicht nach grundlegenden Gesetzen, sondern nach der Tagesverfassung der Besatzer einschränken.

Dazu kommen stetig wachsende, sogenannte Siedlungen, die inzwischen waffenstarrende Wehrburgen geworden sind, und von denen aus seit dem Beginn der Al-Aksa-Intifada, Ende September vergangenen Jahres, die Randzonen von Bethlehem täglich beschossen worden sind. "Wir haben das Gefühl, dass Bethlehem durch diese Siedlungen mehr und mehr erwürgt werden soll", meint Mitri Raheb. Der Grund für seinen Brief an den Präsidenten der USA war aber nicht dieser allgemeine Hintergrund, sondern ein ganz persönliches Erleben, das allerdings zeichenhaft ist für die Gesamtsituation am Beginn des 3. Jahrtausends christlicher Zeitrechnung, an deren Anfang die Geburt eines Kindes stand, über die die Engelchöre jubelten: "Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden, den Menschen seiner Gnade."

Der Brief: Herr Präsident, erlauben Sie mir, dass ich mich zuerst vorstelle. Ich bin ein christlicher Palästinenser, geboren und aufgewachsen in Bethlehem und heute Pfarrer der lutherischen Weihnachtskirche und Direktor des internationalen Zentrums von Bethlehem. Wir begegneten einander vor zwei Jahren hier in Bethlehem und sie haben vielleicht inzwischen mein Buch "Bethlehem 2000" gelesen, das Ihnen von Präsident Arafat anlässlich Ihres Besuches überreicht worden ist.

Heute sollte ich in Ihrem Land ankommen, gemeinsam mit meiner Frau, die über eine "Green-Card" der USA verfügt. Wir waren von Freunden und christlichen Brüdern und Schwestern eingeladen worden, die unseren Besuch ebenso erwarteten, wie wir. Diese Leute haben sich in den vergangenen drei Monaten sehr angestrengt, für uns Vorträge, Predigten und wichtige Begegnungen zu organisieren und zwar in den Bundesstaaten Florida, Illinois, Kansas und Missouri. Wie auch immer, heute sitze ich in meinem Büro in Bethlehem und schreibe diesen Brief an Sie.

Sie waren zu vage!

Ich weiß von ihrem Engagement für den Frieden in dieser Region. Ich habe ihre Friedensvorschläge gelesen, in dem Augenblick, in dem ich sie in die Hand bekam. Zuerst dachte ich, sie wären interessant. Dann, nach einer zweiten Lektüre stellte ich fest, wie vage, wie unverbindlich sie waren. Aber nach meinen gestrigen Erfahrungen kann ich nur sagen, dass sie nichts von dem enthalten, was sie zu versprechen scheinen, nämlich von der Freiheit, dem Frieden und der Menschenwürde, wonach dieses Land dürstet.

Lassen sich mich mit einer einfachen Frage beginnen: Was ist für einen normalen Amerikaner notwendig, um zu reisen, außer einem gültigen Pass, einem Visum und einem Ticket? - Ich würde sagen, kaum mehr. Für einen Palästinenser allerdings ist reisen eine andere Geschichte. Ein Palästinenser kann das Land nicht ohne eine israelische Ausreisegenehmigung verlassen. Für mich, der ich in Bethlehem lebe, bedeutet dies, dass ich eine Genehmigung der israelischen Militärbehörde brauche, die in einem illegal errichteten Siedlungs-Block - genannt Gosh Ezion - sechs Meilen südlich von Bethlehem, stationiert ist. Wie kann ich aber nach Gosh Ezion kommen, wenn ich mich mit meiner grünen Autokennzeichentafel nur in einem Umkreis von einer Meile bewegen darf. Ich kann diese Sperrzone nur verlassen,wenn es mir gelingt ein Taxi mit einer gelben Kennzeichentafel zu erwischen, was in diesen Tagen nicht ganz leicht ist. Nur solcher Art gekennzeichnete Autos dürfen die sogenannten "By-Pass-Straßen" benützen, die auf konfisziertem palästinensischem Land für den Gebrauch israelischer Siedler errichtet worden sind.

Es ist mir am 28. Dezember tatsächlich gelungen, ein solches Taxi an einer der Straßensperren, die den Bezirk von Bethlehem in kleine Stücke schneidet, zu ergattern. Endlich an unserem Ziel, legten meine Frau und ich unsere Papiere vor. Man sagte uns, dass es im Augenblick allen Palästinensern verboten sei, das Land zu verlassen, es sei denn, sie verfügten über einen ausländischen Pass. Man erklärte uns, wir sollten in drei Tagen wiederkommen, dann würde man sehen, was sich machen ließe.

Am 31. Dezember rief ich bei der israelischen Militärbehörde an, um mich zu erkundigen, wie die Lage sei. Man sagte mir, dass meine Frau die Ausreiseerlaubnis bekommen würde, nicht aber ich. Die Erklärung: meine Frau verfüge über eine amerikanische Green-Card zum Unterschied von mir. Ich erklärte, dass ich als Mann der Kirche einen vatikanischen Pass hätte. Die Antwort des Soldaten: "Dann haben Sie andere Formulare auszufüllen, eine Kopie Ihres Passes beizulegen und erneut einzureichen." - Ich tat wie befohlen.

Wiederum fuhren wir zu der Straßensperre in der Hoffnung, wieder ein Taxi mit gelbem Nummernschild zu finden. Dann sah ich allerdings, dass die Sperre soweit offen war, dass ich mit meinem Wagen durchfahren konnte. Ich beschloss, diese Chance zu nützen und selber nach Gosh Ezion zu fahren.Wir hatten beide Angst, nicht wissend, was passieren kann, wenn irgendeiner der Siedler befinden würde, dass unsere Gegenwart auf der Straße als störend zu empfinden sei. Aber dann erreichten wir doch unbehelligt unser Ziel und bekamen unsere Ausreisegenehmigungen.

Kein Schlupfloch mehr Wir fuhren dieselbe Strecke zurück, in der Hoffnung durch das Schlupfloch auch wieder hineinzukommen, aber da blockierte ein israelisches Militärfahrzeug die Straße. Ein Soldat richtete sein Gewehr auf uns und meinte scharf, wir sollten dorthin zurückfahren, woher wir gekommen seien. Meine Frau war verzweifelt. Ich suchte sie zu beruhigen und meinte wir würden sicherlich bei einer der anderen Straßensperren ein Schlupfloch finden. Das war der Augenblick in dem so etwas wie unser Kreuzweg an diesem Tag des noch jungen Jahrtausends beginnen sollte.

Wir fuhren von einem Checkpoint zum anderen. Es dauerte viel länger als eine Stunde und schien aussichtslos zu sein. Ich konnte in diesen Augenblicken wirklich nachempfinden, wie es unseren Leuten aus den Dörfern geht, die jeden Tag all diese Umwege versuchen müssen, um die Stadt mit ihren Waren und sich selbst mit dem Nötigsten aus der Stadt zu versorgen. Es dauerte lange, aber dann über die Berge kommend fanden wir endlich eine Möglichkeit, um nach Bethlehem zurückzukehren.

Gestern, am 4. Jänner fuhren wir um 9.30 Uhr in einem Taxi mit gelbem Nummernschild zum Ben-Gurion-Flughafen, zeitgerecht, um unsere Maschine, die um 16.30 Uhr abfliegen sollte, zu erreichen.Wir waren die ersten vor dem Sicherheits-Check. Wir gaben unsere Pässe, Tickets und Ausreisedokumente der Beamtin. Sie schaute die Dokumente genau an, dann uns und wieder die Dokumente, dann erklärte sie ruhig, dass unsere Ausreise-Dokumente ungültig seien, wir also nicht abfliegen könnten. "Aber die Leute, die uns diese Papiere gestern ausgehändigt haben, sagten, sie sind gültig", versuchte ich zu argumentieren. Sie meinte, sie würde bei der Flughafenpolizei nachfragen. Sie tat es und kam mit dem Bescheid zurück: Ungültig. Ich hatte die Telefonnummer der Militärbehörde und rief an. Dort sagte man mir, es sei alles in Ordnung. Ich übergab den Hörer der Beamtin am Flughafen, damit die diese Botschaft selber hören konnte. Daraufhin schickte sie einen Kollegen zur Flughafenpolizei. Er kam schnell zurück. Die Antwort: Kein Palästinenser darf das Land verlassen.

Ich ließ meine Frau mit dem Gepäck stehen und rannte von einer Stelle zur anderen, wollte selber zur Flughafenpolizei, um alles zu erklären. Dorthin darf man allerdings nur, wenn man eine Bordkarte hat. So etwas hatte ich nicht. Also wollte ich zum Polizeihauptquartier. Das war aber außerhalb des Flughafens und ich kam über den Informationsdesk am Tor nicht hinaus. Die Beamtin hinter der Glasscheibe hörte mir zu, wählte eine Nummer und reichte mir den Hörer: "Es ist keinem Palästinenser erlaubt, das Land zu verlassen. Das sind unsere Instruktionen."

Ich versuchte noch einmal die Behörden in Gosh Ezion anzurufen und bat den Soldaten am Flughafen zu intervenieren. Er versprach dies zu tun. Drei Stunden lang lief ich wie ein Irrer zwischen den einzelnen Büros hin und her. Um 15.35 rief der Mann aus Gosh Ezion an und erklärte, er habe alles versucht, aber die Lage sei aussichtslos.Wir könnten wohl nicht abreisen, das ginge erst wieder, wenn sich die Situation im Lande beruhigt habe.

Wie aber, Herr Präsident, soll die Lage im Land sich beruhigen, wenn die Israelis fortfahren Leute wie uns, so zu behandeln, so zu demütigen und zu erniedrigen? - Was würden Sie, Herr Präsident, in meiner Lage tun? Ich rede nicht von den finanziellen Verlusten für Flugtickets, Taxis und so weiter. Ich rede auch nicht von der vertanen Zeit und unserem Stress. Ich rede von dem einfachen Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit und einem Leben in Würde. Was, Herr Präsident, würden Sie in meiner, in unserer Lage tun? Viele Palästinenser, vor allem Christen, wählen heute die Option der Auswanderung. Sie machen sich auf den Weg in die USA, ihr "Land der Verheißung". Sie leeren damit aber Palästina, das Heilige Land der Verheißung, reißen lebendige Steine der Hoffnung aus ihrem Wurzelgrund. Andere werden durch solche Behandlung immer mehr radikalisiert, weil ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft mehr und mehr schwindet. Ich bin überzeugt, Herr Präsident, würden Sie so behandelt werden wie die Menschen unseres Landes, Sie würden nicht anders handeln. Sie aber wurden nie so behandelt, also können Sie nicht verstehen, was hier geschieht.

Fußspuren Jesu folgen In wenigen Tagen werden Sie Ihr Amt verlassen, ob mit oder ohne einem Abkommen. Wir aber müssen bleiben. Wir werden hier weiter leben, was immer bei dem politischen Handel herauskommt, den ihr Land hier versucht. Und hier, Herr Präsident, frage ich nun: Was würde ich an Ihrer Stelle tun, ich Mitri Raheb, ein kleiner Pfarrer aus Bethlehem? Ich, an Ihrer Stelle, Herr Präsident, würde alles tun, um diesem Volk endlich seine Souveränität zu geben, die Kontrolle über eigene Grenzen, seine eigenen Straßen ohne Militärsperren, seine Lufthoheit, sodass in Zukunft kein Palästinenser, keine Palästinenserin so behandelt werden kann wie wir gestern. Ich rede nicht von Luxus. Ich rede nur von einem Leben ohne ständige Erniedrigung. Wenn ich, Herr Präsident, an Ihrer Stelle wäre, würde ich den Fußspuren Jesu folgen und alles tun, um diesem Land und seinen Menschen, Gerechtigkeit, Heilung und Hoffnung zu bringen, jenem Land, in dem vor 2000 Jahren Gott Mensch geworden ist, um der Menschheit eine neue Perspektive in Frieden und Würde zu verheißen.

Briefende Ich weiß nicht, ob dieser brennende Appel des engagierten palästinensischen Geistlichen sein Ziel erreicht hat und angenommen worden ist. Ich weiß auch nicht, ob diesem Schreiben eine und wenn ja, welche Antwort gefolgt ist. Die Verhandlungsergebnisse zeigen wechselnde Fronten. Bill Clinton, der sich mit einem Durchbruch im Nahost-Friedensprozess noch gerne ins Buch der Geschichte eingetragen hätte, scheint an der eigenen Halbherzigkeit gescheitert zu sein und dass von seinem Nachfolger George W. Bush nicht viel zu erwarten ist, zeichnet sich jetzt schon ab.

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