"Hochgradige“ Katholiken?

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Eines wird immer klarer: Wenn die römisch-katholische Kirche ihr Retro-Image korrigieren möchte, werden viri probati und Mini-Dezentralisierungen nicht reichen. Man wird erklären müssen, warum eine nicht mehr nachvollziehbare Glaubensregel nicht abgeschafft, aber neu definiert werden muss. Da ist nun ein Zauberwort aufgetaucht, das insbesondere Kardinal Schönborn in den Synodendiskurs eingebracht hat: "Gradualität“. Die Lehre bleibt, das Gewissen wird auf-, Einheitsbeurteilung abgewertet.

Die Kirche hat ihre Lehre in den ersten 2000 Jahren ihrer Existenz nach oft heftigen theologischen Diskussionen immer wieder geändert. Einfache Laien bekamen davon lange Zeit sehr wenig mit, weil die Debatten hinter verschlossenen Türen auf Latein und ohne massenmediale Begleitmusik geführt wurden. Damit ist es endgültig vorbei. Wenn aber nun ein Papst eine bestimmte Position (z. B. zu Empfängnisregelung oder Scheidung) jahrelang in jeder zweiten Ansprache verwirft, tut sich ein Nachfolger schwer, den Gläubigen beizubringen, hier habe ein Papst geirrt.

Da könnte "Gradualität“ zum Gesichtsretter werden. Wo es bisher hieß, wiederverheiratete Geschiedene lebten in schwerer Dauersünde, könnte man argumentieren: Die nur staatlich (oder gar nicht) Getrauten hätten füreinander volle Verantwortung übernommen und lebten vorbildlich, das von Jesus verkündete Ideal sei nicht zur Gänze, aber in "hohem Grad“ erreicht und rechtfertige kein Sakramentenverbot. Ähnlich könnte man im Hinblick auf manch andere katholische Zielvorstellung argumentieren: Jeder Mensch ist sündig, keiner soll aber primär nach dem, was er vom Ideal noch nicht, sondern nach dem, was er schon erreicht hat, beurteilt werden. Genau das erwarten wir doch von Gott, warum nicht auch von dessen Bodenpersonal?

Der Autor ist freier Publizist und war von 1978 bis 1984 Chefredakteur der FURCHE

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