6756662-1967_49_08.jpg
Digital In Arbeit

Holland im Jahre 1517?

Werbung
Werbung
Werbung

Sonntagsgottesdienst in der Amsterdamer Studentenparochie. Vor dem Betreten des neuklassizistischen Kirchenraumes erhält jeder einen „Waschzettel“ mit dem Grundgedanken der Predigt, die man während der folgenden Messe hören wird. Der Zelebrant in straßengrauem Meßornat, bestehend aus einem glockenförmigen Mantel mit etwas lichter getönter, stilisierter Stola — bleibt optisch mit der ebenfalls grauen Masse des Volkes integriert. Bis zu den Fürbitten sitzt er auch unter dem Volk. Die Messe beginnt mit einem Psalm. Auf die Lesung folgt ein weiterer Psalm, dann kommt die Predigt. Sie hat als „Aufhänger“ ein aktuelles Ereignis, das in der Presse einigen Staub aufgewirbelt hatte. Während einer Pause wird die Kollekte vorgenommen. Nach den Fürbitten spricht der Zelebrant einen in schlichten, unkonventionellen Worten gehaltenen Kanon. Auf das Pater noster folgt unmittelbar die Austeilung der Kommunion. Jeder erhält die gewandelte Hostie auf die Hand. Zum Abschluß wird das Tagesevangelium gelesen.

Die Kommunion wird in 75 Prozent der holländischen Kirchen in der oben geschilderten Weise gespendet. Diese Form hat sich in der nachkonziliaren Zeit derart schnell und fest eingebürgert, daß die Bischöfe ein diesbezüglich erlassenes römisches Verbot unter den Tisch fallen ließen.

Babylonische Verwirrung in der Liturgie

Wir haben in Holland jedoch noch weit extremere Beispiele für die Auflösung der herkömmlichen liturgischen Formen erlebt. In einem Priesterseminar bei s'Hertogenbosch durften wir an einer „Hausliturgie“ teilnehmen. Hier das Programm: 1. Eröffnungsworte. 2. Kyrie. 3. Gebet. 4. Lesung aus Exodus 16, 1—3.

5. Meditation über Markus 8, 17.

6. Lesung aus Lukas 24, 13—35.

7. Predigt. 8. Fürbitten. 9. Gebet über die Gaben und Kanon. 10. Kommundon unter zwei Gestalten. 11. Vater-

unser. 12. Nachtmahl. Wir saßen dabei um eine U-förrnige Tafel. Während des Abendessens erklärte mir der Rektor, dessen Funktion als Zelebrant sich auf das Sprechen des Kanons und das Brechen des Brotes

beschränkt hatte, er halte die Mitwirkung eines geweihten Priesters an der Eucharistiefeier „nicht für unbedingt essentiell“.

Die seit 1962 bestehende Shalom^ Gruppe in Odijk bei Utrecht veranstaltet jeden Freitag Eucharistiefeiern, bei denen die Rolle des Zele-branten von der ganzen Tischrunde gemeinsam ausgeübt wird: Jeder einzelne, egal ob Priester oder Laie, bricht und teilt das Brot für -seinen Nachbarn.

Die liturgische Experimentierfreudigkeit des progressiven holländischen Katholizismus scheint in einem engen Zusammenhang mit den sehr verschiedenartigen Vorstellungen von der Eucharistie zu stehen, die in ihren extremsten Formen nahe an eine völlige Säkularisierung heranreichen. Ich traf keinen holländi-

sehen Gesprächspartner, der die Realpräsenz Christi in der Eucharistie negiert hätte, aber ich fand einige Vertreter der Auffassung, daß die Frage der Realpräsenz sekundär sei. Unter diesen befanden sich nicht

nur Amateurtheologen, sondern auch anerkannte Dogmatiker. Für sie steht der Aspekt im Vordergrund, die Eucharistie sei die Verdichtung der an der Eucharistiefeier mitwirkenden Gemeinschaft, eine Art Liebessymbol also. Auf die Frage, ob darüberhinaus das verwandelte Brot nicht weit mehr bedeute, erhielt ich wiederholt die Antwort: „Schon möglich, aber für uns genügt es, im Brot ein Zeichen unserer Brüderlichkeit zu sehen.“

Eucharistiediskussion auf breiter Basis

In etwas subtilerer Form begegnet man dieser Problemstellung auch im neuen holländischen Katechismus. Es heißt darin, im Katechismus aus dem Jahre 1910 sei die Realpräsenz als der wichtigste Aspekt der Eucharistie betrachtet worden. Jede Zeit aber stelle jene Interpretationen des unausschöpflichen Mysteriums des Brotes in den Vordergrund, die auf Grund der jeweiligen Situation als besonders betonenswert empfunden werden. Hier liegt ein Schlüssel zum Verständnis der eingetretenen Akzentverschiebung. Solange man gegen den die Realpräsenz anzweifelnden Protestantismus eine defensive Haltung einnahm — Dreißig-bis Vierzigjährige erinnern sich, daß sie in ihrer Kindheit mit protestantischen Kindern nicht spielen durften —, klammerte man sich mit besonderer Hartnäckigkeit an die Realpräsenz.

Bereits im holländischen Katechismus des Jahres 1948 wird die tatsächliche Gegenwart Christi in der Kommunion jedoch als letzte der angeführten Sinndeutungen der Eucharistie gereiht! Was war ge-

schehen? Der Katholizismus bereitete schon damals die Annäherung an den Protestantismus vor. Dieses Näherrücken ist heute zum beherrschenden Grundmotiv aller dogmatischen Auflösungserscheinungen geworden.

Die Aufweichung bisher unumstößlicher Grundsätze und Praktiken machte auch vor den übrigen Sakramenten nicht Halt. So geht in Holland kaum noch jemand zur Beichte. Dazu ein Studentenseelsorger in Amsterdam: Die Verzeihung des Mitmenschen zu erlangen, demgegenüber das Gebot der Liebe verletzt wurde, sei wichtiger als eine „ritualisierte Sündenvergebung“, wie sie die Beichte darstelle.

Viele unserer Gespräche mit holländischen Katholiken hatten ein Thema als Ausgangspunkt, das recht weit von theologischen Kernfragen entfernt schien. Dennoch schlitterten wir im Laufe der Diskussion unversehens immer wieder tief ins Theologische hinein. Es läßt sich über die Organisation der Seelsorge öder rituelle Formen unter Außerachtlassung des geistigen Unterbaues nicht reden. Die Folge war für uns eine Art theologischer Schocktherapie. Es begann damit, daß mir ein Professor an einem Priesterausbildungsinstitut den neuen holländischen Katechismus in der Weise interpretierte, daß dieser die Immortalität der Seele als ein Weiterleben des Verstorbenen in seinen Werken deute. Die Spur, die der Mensch während seines Erdendaseins ziehe, sei unauslöschlich. Ob er jedoch personal weiterlebe, bleibe offen. Ein junger Priester sagte, die Frage der Weiterexistenz nach dem Tode sei für ihn nebensächlich. Um leben zu können genüge es, in der Liebe zum Nächsten aufzugehen. Dies mache die Unsicherheit über das Nachher erträglich ...

Worin besteht das Weiterleben nach dem Tode?

Gerade bei der Frage der Unsterblichkeit der Seele wird deutlich, wie sehr der neue holländische Katechismus kein geschlossenes Lehrgebäude darstellen will, sondern verschiedenen Standpunkten Raum läßt. Er stellt den Gedanken des Weiterlebens auf Grund der vollbrachten Werke an den Anfang und schließt daran die Frage, ob nicht gerade dies eine sehr personale Art der Immortalität sei. Damit kommt er dem „katholischen Agnostizismus“ entgegen. Aber auch die traditionelle Lehre vom Weiterleben nach dem Tode kommt nicht zu kurz. Jeder kann sich also aus dem Buch die Ansicht herausholen, die ihm als die plausibelste erscheint... Das Neue für uns: In Holland kann man auch als Agnostiker katholisch, ja sogar katholischer Priester sein.

Der biblische Auferstehungsbericht ist den holländischen Progressisten ebenfalls mehr Mythos als historische Wahrheit. Nicht, daß sie die Auferstehung Christi an sich bestreiten. Sie meinen nur, daß das Grab des Herrn niemals leer gewesen sein könnte. „Ein Leichnam bleibt ein Leichnam“, betonte Pater Kilsdonk. Ein junger, dem Augustinerorden angehörender Exeget versuchte diese Auffassung uns gegenüber wissenschaftlich zu untermauern. Ein Vergleich des Auferstehungsberichtes der drei Synoptiker zeigt, wie der Mythos in mehreren Jahren allmählich gewachsen ist. Weil den ersten Christen von ihren Verfolgern entgegengehalten worden sei, daß Christus tot sei, nicht wirklich lebe, hätten sie ihrer Uberzeugung, daß der Herr lebe, durch eine bildhafte Ausschmückung der Auferstehungswirk-lichkeit Ausdruck gegeben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung