Ich bin kein Opfer mehr

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Dagmar Winkler-Steidl wurde als Kind von ihrem Vater missbraucht. Sie schrieb nun ein Buch darüber, um anderen Betroffenen Mut zu machen und der Gesellschaft die Augen zu öffnen.

Ich bin kein Opfer mehr. Deshalb konnte ich dieses Buch schreiben“, betont Dagmar Winkler-Steidl. Im Interview erklärt sie mutig, wie sie die traumatischen Erfahrungen in ihrer Kindheit verarbeiten konnte und wie Kindesmissbrauch verhindert werden könnte (siehe auch Seiten 2 und 3).

Die Furche: Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie von den Missbrauchsfällen in Einrichtungen der Kirche hören?

Dagmar Winkler-Steidl: Ich glaube, es ist kein Zufall, dass mein Buch jetzt erscheint. Es ist wichtig, dass diese Taten ans Licht kommen und die Gesellschaft die Augen öffnet. Nur so kann Veränderung stattfinden.

Die Furche: Warum kommt es Ihrer Meinung nach so oft zu Missbrauch?

Winkler-Steidl: Sexueller Missbrauch passiert dort, wo alte Strukturen, Hierarchien und Machtmissbrauch wirken, wo es starke Dogmen gibt und wo den Menschen das Gefühl für den anderen abhanden gekommen ist. Der Mangel an Einfühlungsvermögen setzt eine Spirale in Gang, sei es in Familien oder in der Kirche, und wird von Generation zu Generation weitergegeben.

Die Furche: Sie wurden von Ihrem Vater sexuell missbraucht. Was ist geschehen?

Winkler-Steidl: Der Missbrauch ist in der frühen Kindheit passiert. Je früher er passiert, umso stärker ist die Verdrängung, weil du als Kind von der Zuwendung der Eltern abhängig bist. Ich habe lange geglaubt, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben. Ich habe meinen Vater abgöttisch geliebt. Ich konnte den Missbrauch erst durch Geschehnisse in der Gegenwart erkennen.

Die Furche: Wie lange hat der Missbrauch gedauert?

Winkler-Steidl: Er hat so lange gedauert wie die Beziehung zu meinem ersten Freund: sechs bis sieben Jahre. Er hat im Volksschulalter aufgehört, als die Missbrauch-Symptome zu massiv geworden sind. Ich wollte wieder einen Schnuller haben, habe Daumen gelutscht, hatte keinen Appetit.

Die Furche: Wie weit ist Ihr Vater gegangen?

Winkler-Steidl: Ich möchte darauf nicht eingehen. Meine Mutter hatte ein Jahr nach meiner Geburt, 1969, eine Abtreibung. Das musste eine massive Erschütterung für die Ehe meiner Eltern gewesen sein. Das war der erste Gefühlspanzer, den meine Mutter aufgebaut hat. Die Lustbefriedigung, die Spielchen, die meine Mutter nicht erfüllt hat, die habe ich erfüllt. Das Perverse daran war, dass ich keinen anderen Bezug zu meinem Vater hatte als diese Spiele. Das war normal für mich. Meine Mutter hat mich später gefragt, warum ich mich nicht gewehrt und geschrien habe. Das Perverse war, es ist mir sogar abgegangen, wenn es nicht passiert ist, weil das mein Bezug zu meinem Vater war.

Die Furche: Was waren die Folgen?

Winkler-Steidl: Ich litt als Kind und Jugendliche an Lernschwierigkeiten, Konzentrationsstörungen und Essstörungen. Die massivste Folgeerscheinung ist aber, dass du dieses Muster immer wieder wählst. Dass du Dinge gegen deinen Willen mit dir geschehen lässt. Ich wählte ebenso zwiespältige Männer wie mein Vater einer war.

Die Furche: Mit 41 Jahren haben Sie erst erkannt, dass Sie missbraucht wurden. In Ihrem Buch schreiben Sie, wie es wie ein Vulkan aus Ihnen hervorkam.

Winkler-Steidl: Die Jahre davor hatte ich das Geschehene zwar verdrängt, aber es war immer irgendwie präsent. Sonst hätte ich meine Tagebücher nicht geschrieben. Ich habe mich damit auseinandergesetzt, warum ich so viel mit mir geschehen lasse. Ich habe gefragt, hinterfragt, war im Zwiegespräch mit meinem Himmelvater, ich habe ihn gebeten, mir zu helfen, mich der Wahrheit näher zu bringen.

Die Furche: Und wann wurde es Gewissheit?

Winkler-Steidl: Die Erkenntnis kam, als ich mich im letzten Jahr vier Tage in ein buddhistisches Zentrum zurückgezogen habe. Als ich zurückkam, empfand ich diese unsichtbare Mauer zwischen mir und meinem Mann. Ich wollte wissen, warum. Er erzählte mir, dass er ein Kind mit einer anderen Frau gezeugt hatte. Das war wie ein Messerstich ins Herz. Ich tauchte danach in eine massive Schmerzenergie ein. Die folgenden Tage habe ich keine Ablenkung gesucht, ich habe wichtige Freunde getroffen und von jedem habe ich einen Hinweis bekommen. Der entscheidende Hinweis kam von einer Freundin, die zu mir sagte: Ich bin erst vor zwei Wochen drauf gekommen, dass ich von meinem Vater missbraucht worden bin. Als ich heim gekommen bin, war da ein unbeschreibliches Gefühl, es ist wie eine Welle über mich gekommen. Dann kam die Gewissheit.

Die Furche: Wie haben Sie es geschafft, den sexuellen Missbrauch zu verarbeiten?

Winkler-Steidl: Ich habe mich 20 Jahre darauf vorbereitet. Ich war gerüstet, meiner Wahrheit zu begegnen. Ich bin kein Opfer mehr, darum habe ich es auch geschafft, das Buch zu schreiben. Es war dennoch ein Schock, es hat mich zu Boden geworfen. Zeitgleich habe ich aber gefühlt, das muss ans Licht. Ich möchte Mut machen, dass wir die Augen öffnen.

Die Furche: Hassen Sie Ihren Vater oder konnten Sie ihm verzeihen?

Winkler-Steidl: Ich habe den Hass aus meinem Leben verbannt, weil er einen nicht weiterbringt. Mein Vater ist 1998 verstorben. Ich bin froh, dass er mir nicht mehr in die Augen schauen muss. Ich glaube, ich habe ihm verziehen. Ich fühle nach wie vor eine Verbindung zu ihm und diese fühlt sich geheilt an. Es ist Friede zwischen uns.

Die Furche: Wenn er noch lebte, hätten Sie ihn angezeigt?

Winkler-Steidl: Das ist unglaublich schwer zu beantworten. Ich bin sehr froh, dass ich den Missbrauch erst im höheren Alter erkannt habe. Es wäre für mich schrecklich gewesen, wenn ich den Missbrauch mit meinem Vater vor Gericht austragen hätte müssen. Ich glaube dort passieren schlimme Traumatisierungen. Es geht um ein Familiensystem. Den anderen nur anzuklagen, bringt keine Heilung.

Die Furche: Sondern ...?

Winkler-Steidl: Eine Form der Mediation, eine gemeinsame Therapie. Die Täter müssen sich ihrer eigenen Wahrheit stellen, dann erst können sie nachempfinden, was sie weitertragen und dass sie Wunden, die sie selbst erlitten haben, anderen zufügen.

Die Furche: Wäre es wichtig für Sie gewesen, dass Ihr Vater gesagt hätte: Es war falsch.

Winkler-Steidl: Das war für mich schon wichtig, und er hat es mir im Traum auch zukommen lassen. Ich habe ihn im Traum gefragt: Warum hatten wir Sex, Vati? Warum hast du mich benutzt wie eine Ware und meine Weiblichkeit so tief verletzt? Am Anfang hat er gesagt: Du warst so lieb und süß, das war doch nichts Schlimmes. Und später: Es tut mir leid, ich habe nicht gewusst, dass es dich dein Leben lang verfolgt.

Die Furche: Wie hat Ihre Familie reagiert?

Winkler-Steidl: Meine Mutter hatte zunächst gesagt: Das bildest du dir ein. Ich habe zu ihr gesagt: Wenn du diesen Satz noch einmal sagst, dann verlässt du meine Wohnung und wir sehen uns nie wieder. Sie wollte bleiben. Im weiteren Gespräch habe ich sie mit der Wahrheit nicht verschont. Dann hat sie gesagt: Darf ich dich in den Arm nehmen? Es war die erste wirklich innige und ehrliche Umarmung, die ich von meiner Mutter erfahren habe. Es war danach ein langer Weg, bis meine Mutter und mein Bruder auch gesagt haben: Wir stehen hinter dem Buch.

Die Furche: Was muss sich verändern, damit Missbrauch verhindert werden kann?

Winkler-Steidl: Bezogen auf meine Geschichte kann ich sagen, dass es passierte, weil meine Eltern in eine Kriegsenergie hineingeboren wurden. Nach dem Krieg ging es nur um Leistung. Es zählten die Glaubenssätze: Hör nur auf deinen Verstand, nicht auf dein Gefühl. Nur die Harten kommen durch. Beiß die Zähne zusammen. Wenn wir aber nicht anfangen, unsere Herzen zu öffnen, wenn wir nicht auf unser Bauchgefühl hören, sondern nur auf unseren Kopf, auf Leistung, dann wird der Missbrauch nicht aufhören. Meine Botschaft ist: Zurück zum Gefühl. Wenn du dich selbst liebst und fühlst, dann kannst du einem anderen nicht so einen Schmerz zufügen.

* Das Gespräch führte Regine Bogensberger

Autorin

Dagmar Winkler-Steidl, geboren 1968 in Innsbruck, ist diplomierte Shiatsu-Praktikerin und Mutter zweier Söhne. Sie war als Grafikerin und Journalistin tätig, bevor sie ihr erstes Buch publizierte.

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