"Ich brauchte 50 Jahre um zurückzukehren“

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Martin Owens flüchtete 1938 als Zehnjähriger von Wien nach England. Nun kam er zurück, um seinen Kindern die Stadt zu zeigen.

Anfangs wurde der Volksschüler Martin Friedenfeld behandelt wie alle anderen Kinder des Pädagogiums Hegelgasse im ersten Wiener Bezirk. Trotz seiner jüdischen Herkunft. Doch bald sollte alles anders sein. Eine Atmosphäre der Feindseligkeit war nun spürbar. "Die Lehrer waren uns jüdischen Schülern gegenüber sehr harsch. Es war klar, dass wir ‚Untermenschen‘ waren“, erinnert sich der heute 85-Jährige mit leiser Stimme. Wenn Martin Owens von diesem Kapitel seines Lebens erzählt, ist der freundliche und aufgeschlossene Amerikaner sehr reserviert und ruhig. Es sind keine schönen Bilder aus Kindheitstagen, die sich eingebrannt haben: "Ich erinnere mich noch genau, wie ich die Taborstraße hinuntergegangen bin und diese SA-Männer gesehen habe, die eine Gruppe jüdischer Menschen umzingelten. Auf ihren Händen und Knien mussten sie den Boden schrubben.“ In dieser Zeit wurde Owens einige Male von seinen Mitschülern gejagt und verprügelt. Jeden Tag musste seine Mutter ihn mit der Straßenbahn zur Schule begleiten und pünktlich wieder abholen, damit ihm nichts passierte.

Aufgewachsen ist Owens zunächst in behüteten Verhältnissen. Seine Familie besaß eine Knopf-Fabrik und eine Pelz-Großhandlung. Durch die Wirtschaftskrise der Dreißigerjahre verloren die Friedenfelds ihre Fabrik. "Wir mussten zu den Großeltern am Karmeliterplatz 1 ziehen, und mein Vater hat einen Job als Versicherungsverkäufer angenommen“, erzählt Owens. Seine Eltern sehen nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland keinen anderen Ausweg mehr, als ihren Sohn alleine nach England zu schicken. Hauptsache raus aus der Hitler-Diktatur, solange es noch geht. "Meine Mutter musste ewig in Schlangen stehen, um meine Papiere für die England-Reise zu bekommen. Sie wurde von der Gestapo viele Male mitgenommen und befragt, aber glücklicherweise war sie eine sehr hübsche Frau, sodass die Gestapo-Männer sie immer gehen ließen.“ Am 21. September 1938 bringt seine Mutter den zehnjährigen Martin zum Zug am Wiener Westbahnhof. Seine vierjährige Schwester Lisa ist noch zu jung, um ohne Eltern zu reisen. Wie für unzählige andere Familien ist es auch für die Friedenfelds ein tränenreicher Abschied für wer weiß wielange. Die Mutter sollte ihren Sohn erst nach Kriegsende wiedersehen, auf einem anderen Kontinent und als jungen Mann.

Vater war zwei Jahre in Berlin inhaftiert

Sich an die Kindheit in Wien zu erinnern, fällt dem agilen 85-Jährigen schwer. "Ich bin mir nicht sicher, ob unser Zug bereits ein offizieller Kindertransport war, aber ich erinnere mich an einige andere Kinder im Zug. Zwei ältere Mädchen haben sich um uns Kleinere gekümmert.“ Er erinnert sich auch an einen Stopp in Nürnberg, wo gerade der Reichsparteitag stattfand. Bis zur belgischen Grenzen werden die jüdischen Kinder von den deutschen Schaffnern sekkiert. "Dann kam eine ältere Frau an Board und brachte uns belgische Kekse und Kakao“, erzählt er. Von Ostende geht es mit dem Schiff über den Ärmelkanal nach Dover und mit dem Zug weiter nach London. "Dort wurde ich von emigrierten Freunden meiner Eltern abgeholt und in den Zug Richtung Internat gesetzt.“. Seine Mutter emigriert erst 1939 mit der vierjährigen Schwester in die USA, der Vater folgt ihnen 1941. Er war zuvor zwei Jahre lang in Berlin inhaftiert, weil er gemeinsam mit einem Freund Papiere zur Ausreise von Juden gefälscht hatte. Seine Frau kann ihm schließlich ein Visum für die USA besorgen. "Ich denke, England nahm nur Kinder auf, also ist die restliche Familie in die USA gegangen“, meint Owens rückblickend. Die Stoatley Rough School im südenglischen Surrey sollte für die nächsten sieben Jahre Owens’ Zuhause werden. Die neu gegründete Internatsschule bot jüdischen Kindern aus Deutschland, Österreich und der damaligen Tschechoslowakei Unterschlupf. Für Martin Owens werden es sieben vergleichsweise glückliche Jahre in dem Landhaus auf dem Hügel - trotz der Entbehrungen der Kriegszeit und der Angriffe der "Luftwaffe“ auf das nahe gelegene London. Nachdem das schlimmste Heimweh überwunden ist - nur ein sporadischer Briefwechsel ist möglich - lebt sich Owens sehr gut ein. "Das Internat machte viel Spaß, weil wir Selbstversorger waren. Wir kochten und putzten das Haus, flickten unsere Socken, haben Gärten und unseren eigenen Bauernhof bewirtschaftet. Auf den Tennisplätzen haben wir oft Völkerball und Fußball gespielt“, erzählt Owens.

Die Schülerinnen und Schüler leben und lernen gemeinsam, rauchen heimlich ihre erste Zigarette und erleben ihre erste Liebe - Erfahrungen, die bis heute zusammenschweißen. "Wir wurden Freunde fürs Leben“, erzählt Owens. "Bis heute treffen wir uns jedes Jahr einmal - fünf von uns sind noch übrig geblieben.“ Seine zweite Frau, Barbara Wolfenden, hat ein Buch über das Internat geschrieben, das in England unter dem Titel "Little Holocaust Survivors and the School that saved them“ veröffentlicht wurde. Erst im Mai 1945 reist Owens mit dem Schiff zu seiner Familie nach New York. "Das Wiedersehen war ein sehr emotionaler Moment“, nickt er und lächelt. Nach 1945 hat seine Familie keinerlei Kontakt mehr nach Österreich. Owens’ Großmutter wurde in Theresienstadt ermordet. Ein Onkel aus Budapest kam auf einem der Todesmärsche gegen Ende des Krieges um. Und eine Tante zog schon zu Beginn des Krieges nach Argentinien. Von den Konzentrationslagern erfährt Owens noch 1945 in den USA. In den dortigen Kinos wird Filmmaterial gezeigt, das die US-Truppen bei der Befreiung der KZs aufgenommen haben. Owens studiert industrielle Psychologie und entwirft nach dem Studium Arbeitsplätze für die Airforce. Dort trifft er auch seine erste Frau, mit der er fünf Kinder hat und sich in den Sechzigerjahren in Boston niederlässt.

Österreicher seien wie Fähnchen im Wind

Erst 1988 - 50 Jahre nachdem er Öster-reich den Rücken gekehrt hatte - kommt er erstmals zurück. Während eines Schiurlaubes in Kitzbühel nimmt er den Zug nach Wien. "Da hatte ich erstmals das Gefühl: Jetzt ist es an der Zeit. Aber es fühlte sich seltsam an, durch die Gassen meiner Kindheit zu gehen, nicht wie nach Hause kommen.“ Äußerst schwer gefallen ist ihm der Umgang mit den älteren Österreichern. "Sie haben sich damals benommen wie Fähnchen im Wind und einfach mitgemacht”, sagt er kopfschüttelnd. Er kann sich erinnern, dass er kurz vor Hitlers Einmarsch mit seinem Kindermädchen am Opernplatz war: "Da waren tausende Menschen, die geschrien haben: ‚Rot-weiß-rot bis in den Tod!‘ Nur ein paar Tage später, als die deutschen Truppen die Kärntner Straße hinunter marschierten, waren da wieder Unmengen von Menschen, die alle begeistert ‚Heil Hitler!‘ gerufen haben.“ Bei diesem Österreich-Besuch wurde Owens vom Jewish Welcome Service (siehe Kasten) eingeladen. "Ich dachte mir, das ist eine tolle Möglichkeit, um meinen Kindern zu zeigen, woher ich komme“, erklärt er. Denn bisher hat er mit seinen Kindern nicht viel über seine Vergangenheit in Österreich gesprochen. "Wenn wir nachfragten, haben wir eine kurze formelle Antwort bekommen, und er hat das Thema gewechselt“, erzählen seine beiden Töchter Emily und Joan. Die schlimmen Erfahrungen der Kindheit haben Owens geprägt. "Ich musste sehr früh erwachsen werden. Und ich habe immer Angst, die Menschen in meinem Leben zu verlieren.“ Manchmal kommen böse Erinnerungen durch Kleinigkeiten ausgelöst wieder hoch: "Einmal war ich in München in einem Biergarten und hörte die Leute deutsche Lieder singen. Für mich klangen sie wie Nazilieder. Ich habe es nicht ausgehalten und musste rausgehen.“

Langsam gelangt Owens an dem Punkt an, wo er von den Berichten über die NS-Zeit genug hat. "Ich habe sehr viel darüber gelesen und verstehe noch immer nicht, wie Menschen sechs Millionen andere Menschen umbringen können. Wie Menschen so etwas Grausames tun können, verstehe ich einfach nicht.“ Gegenüber den jüngeren Generationen in Österreich und Deutschland ist er sehr versöhnlich: "Sie haben sich mit der Geschichte auseinandergesetzt. Die neuen Generationen können nichts dafür, was die Älteren getan haben.“

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