"Ich habe neu glauben gelernt“

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In der brasilianischen Millionenstadt Goiânia, weit weg von Rom, erzählt Mercedes de Budallés Diez Menschen inmitten von Armut, Gewalt und Korruption von der befreienden Kraft der Bibel.

Goiânia ist eine jener Städte, die auf dem Reißbrett entstanden sind: Genau am 24. Oktober 1933 wurde inmitten des zentralbrasilianischen Bundesstaates Goiás der Grundstein gelegt. Heute, 69 Jahre später, leben hier bereits zwei Millionen Menschen: Da sind jene Studierenden, die sich an einer der zahlreichen Universitäten für die Zukunft rüsten; da sind die Großgrundbesitzer, die im Stadtzentrum ihr Kapital bunkern; und da sind die Hunderttausenden in der riesigen Peripherie, die für diese Latifundienbesitzer arbeiten oder Woche für Woche in die 200 Kilometer entfernte Hauptstadt Brasília pendeln müssen.

Hier, in dieser so widersprüchlichen Stadt mit ihrem großen Reichtum und ihren vielen Armen, mit Korruption und Gewalt, mit all den Menschen, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben hergekommen sind und sich nun enttäuscht ihr Stück vom Kuchen durch Drogenhandel sichern wollen - hier also spricht Mercedes de Budallés Diez vom befreienden Gott der Heiligen Schrift.

Am Leben der Menschen anknüpfen

Seit 15 Jahren ist die zierliche Frau mit dem herzlichen Lachen Professorin für Altes Testament in Goiânia: Sie vermittelt den Studierenden freilich nicht nur die Theorie der Bibelpastoral. Als Beraterin des ökumenischen Bibelzentrums CEBI (Centro Biblico) geht sie mit ihnen direkt in die Basisgemeinden, um nach dem Vorbild des großen Volksbildners Paulo Freire am Leben der Menschen anzuknüpfen. Gemeinsam lässt man sich von Schöpfungstexten und vom Gott des Exodus inspirieren, feiert Feste - oder versammelt sich zum Protest: etwa gegen die Abholzung des Regenwaldes, die den Klimawandel vorantreibt und der indigenen Bevölkerung den Lebensraum raubt; oder gegen staatliche Projekte, die nur der Oberschicht zugutekommen; oder gegen gewisse Vorgänge in der Kirche. "Die Bibel ist für uns ein revolutionäres Werkzeug“, bringt es Budallés Diez auf den Punkt. "Sie hilft uns, die Erinnerung an dieses arme Volk lebendig zu halten, das sich befreien konnte, weil es an einen befreienden Gott geglaubt hat.“ Dass diese Art der Exegese in Rom auf Widerwillen stößt, ist ihr wohl bewusst. "Aber die Lebensrealität bei uns ist eben sehr verschieden von jener im Vatikan“, sagt die 68-Jährige. "Das ist der Hauptgrund, warum die Befreiungstheologie dort nicht verstanden wird.“

Während Rom verstärkt auf den Katechismus setzt, möchte das CEBI die Menschen einladen, sich von der Glaubenserfahrung des Volkes Gottes und der Jünger Jesu berühren zu lassen und zu einem befreienden, christlichen Handeln zu finden - nicht nur in Lateinamerika oder Afrika, sondern auch hier in Österreich, wo Budallés Diez gerade auf Einladung der Dreikönigsaktion der Katholischen Jungschar die "populare Bibellektüre“ in Workshops präsentiert.

In Brasilien arbeitet sie als feministische Theologin vor allem mit Frauen, die unter dem machistischen Gesellschaftssystem zu leiden haben. Beim gemeinsamen Handarbeiten oder Brotbacken sollen die Frauen durch Bibelreflexion und Bewusstseinsbildung gestärkt werden. Manche Männer verbieten ihnen daraufhin, an den Treffen teilzunehmen. Doch andere zeigen selbst Interesse. "Es ist ein langsamer Prozess“, ist sie sich bewusst, "aber die Veränderung des Gottesbildes hat auch Auswirkungen.“

Man schreibt das Jahr 1976, als sich ihr eigenes Gottesbild und ihre Mentalität maßgeblich verändert. Die junge Biologin und Theologin, die 1944 im spanischen Girona nahe Barcelona geboren worden ist und sich nach dem Ende ihres Lehramtsstudiums mit einer Gruppe von Jesuiten auf den Philippinen engagiert hat, kommt erstmals nach Brasilien. "Als Europäerin war ich in einem starken Aktionismus gefangen“, erinnert sie sich. "Doch im Zusammenleben mit der indigenen Bevölkerung habe ich gemerkt, dass das Leben nicht mechanisch abläuft, sondern viel mit Zeitnehmen und Naturverbundenheit zu tun hat. Da habe ich als Person und Theologin neu glauben gelernt.“

500 Euro Kopfgeld

Was Widerstand und Furchtlosigkeit bedeutet, erfährt sie Mitte der 1990er-Jahre in der Prälatur von São Félix do Araguaia, die vom legendären Bischof und Befreiungstheologen Pedro Casaldáliga geleitet wird. Mehrere Weggefährten werden ermordet, auf sie selbst wird ein Kopfgeld von umgerechnet 500 Euro ausgegeben - und an willigen Pistoleros mangelt es nicht. "Anfangs haben wir noch gedacht, dass wir bereit sein müssen, auch unser Leben hinzugeben“, erzählt sie. "Doch mit der Zeit haben wir verstanden, dass es auch andere Methoden gibt als die direkte Konfrontation.“ Die Theologin entscheidet sich für eine Auszeit in Jerusalem, wo sie ihre Bibelstudien vorantreibt und sich mit den Palästinensern solidarisiert. 1997 kehrt sie schließlich nach Brasilien zurück, vertieft sich in São Paulo in das Fach Religionswissenschaft und unterrichtet fortan an der Universität von Goiânia.

Heute lebt die Laiin, die "keine Zeit zum Heiraten“ hatte, in einer ökumenischen Klostergemeinschaft am Rande der Stadt. Zwei Mal wöchentlich fährt sie ins Zentrum, um gemeinsam mit ihren Studierenden und den Menschen an der Basis die Frage zu stellen, "was Gott von uns in dieser konkreten Situation will“. "Und wenn ich sterbe“, sagt sie fröhlich, "dann hätte ich gern, dass ein brasilianisches Lied gesungen und Samba getanzt wird. Freude haben und glücklich sein - darum geht es schließlich im Leben.“

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