"Identität ist eine offene Frage"

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Der Direktor des IWM, des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen, über die Undefinierbarkeit Europas und dessen Verhältnis zu den USA.

die furche: Was bedeutet für Sie persönlich das Projekt der EU-Erweiterung?

krzysztof michalski: Ich bin Pole und lebe in Österreich - mit der polnischen und der österreichischen Staatsbürgerschaft. Wenn Polen Mitglied der EU ist, wird die Grenze zwischen Polen und der EU nach und nach verschwinden. Mein anderes Land wird Teil des Gebildes sein, zu dem dieses Land, in dem wir jetzt sitzen, schon gehört. Das ist sicher eine phantastische Sache.

Es ist auch eine Genugtuung, denn vor 20 Jahren habe ich dieses Institut (das Institut für die Wissenschaften vom Menschen; Anm.) hier in Wien gegründet in der Absicht, ein wenig dazu beizutragen, dass sich die beiden Teile des Kontinents wieder einander nähern. Selbstverständlich können Sie die Welt mit wissenschaftlicher Forschung nicht sofort ändern; und meine Freunde und ich haben uns damals keine Illusionen über unsere Möglichkeiten gemacht. Und das, was wir wollten, das wird jetzt politische Wirklichkeit. Politische Wirklichkeit heißt noch nicht geistige, kulturelle Wirklichkeit, das ist klar. Deutschland ist seit über zehn Jahren wiedervereinigt, und trotzdem gibt es eine Mauer. Aber dennoch ist das, was schon passiert ist, ein riesiger Schritt.

die furche: Kann man bezüglich der so genannten Reformstaaten von einer "Rückkehr nach Europa" sprechen - oder handelt es sich um etwas qualitativ völlig Neues?

michalski: Nun, die Europäische Union ist nicht identisch mit Europa. "Rückkehr nach Europa" ist also nicht gleichzusetzen mit der Angliederung an ein bestimmtes politisches Gebilde, die EU. Die Parole "Rückkehr nach Europa" meinte damals, nach 1989, Rückkehr zu einem politischen und wirtschaftlichen System, das mehr Freiheit erlaubt, als es sie unter dem Kommunismus gab.

die furche: Das heißt, die Rückkehr dieser Länder nach Europa ist schon erfolgt?

michalski: Ja, in diesem Sinne schon; obwohl wir natürlich auch schon Europäer waren, als wir noch unter der Ägide der Sowjetunion standen.

die furche: Aber eben nicht im Sinne des politisch-pluralistischen Systems?

michalski: Das ist richtig.

die furche: Europa ist im Westen und Norden im Wortsinn klar definiert, also abgegrenzt. Blickt man Richtung Osten und Südosten, wird das Bild diffuser. Lässt sich auch hier vernünftigerweise eine Grenzziehung vornehmen? Anders gefragt: Wie weit reicht Europa?

michalski: Kann man die Grenzen im Westen tatsächlich so klar ziehen? Es ist vordergründig leichter, weil es ein großes Meer hinter Portugal gibt - aber was ist mit den Vereinigten Staaten? Wenn Sie Europa als geistige Einheit verstehen, dann muss die Definition notwendigerweise verschwommen sein. Geistige Einheiten kann man nicht klar definieren. Identität ist eine Frage, keine einfache Wirklichkeit. Es ist etwa auch absurd zu behaupten, dass es klar sei, was es bedeutet, Deutscher oder Pole oder Jude zu sein. Das heißt, dass die Frage "Was ist Europa?" zu seiner Definition gehört.

Etwas anderes ist die Frage, welche Regionen, Staaten etc. zu einem bestimmten politischen Gebilde gehören sollen. Diese Frage ist natürlich nicht ganz zu trennen von der ersten, zu den politischen Konstruktionen gehört auch ein bestimmter kultureller Hintergrund. Es ist eine wichtige Frage, wie man dieses politische Gebilde, die EU, gegenüber etwa dem Islam kulturell definiert. Aber man muss doch die politische und die kulturelle Frage auseinanderhalten. Wenn man also fragt: "Gehört Russland zu Europa?", so muss man sagen, was man meint: ob es politisch sinnvoll bzw. machbar ist, dass Russland der EU oder der NATO angehört; oder ob es kulturell zu Europa gehört. Geht es um Letzteres, ist die Frage freilich eine rhetorische: Es wäre absurd zu behaupten, dass Russland in diesem Sinn nicht zu Europa gehört, denkt man nur an Dostojewskij oder Turgenjew, ganz abgesehen von der russischen Einflussnahme in den letzten 200, 300 Jahren auf unsere Geschicke.

die furche: Ist es für Sie als Intellektueller vorstellbar, dass es - unabhängig von wirtschaftlichen Eckdaten - dereinst eine Europäische Union mit den Mitgliedern Russland und Türkei gibt?

michalski: Ja, sicher. Russland auf jeden Fall. Aber vom Grundsätzlichen her auch die Türkei, warum nicht. Die Türkei ist seit Jahrhunderten Teil Europas, mit positiven wie negativen Konsequenzen. Es wäre phantastisch, wenn es machbar wäre, ohne das Bisherige zu zerstören. Das aber ist eine andere Frage, und ich glaube, diese Frage lässt sich in den nächsten Jahren politisch nicht stellen.

die furche: Es hat vor kurzem ein Konvent begonnen, darüber nachzudenken, wie es mit dem Projekt Europa weitergehen soll. Was würden Sie sich - als Philosoph, als Österreicher und als Pole - von diesem Gremium wünschen?

michalski: Eine Diskussion über die Form der Gemeinsamkeit ist sehr wichtig, da Europa offensichtlich in einer Krisensituation steckt. Es scheint, dass die Energie, die enorme Erfolge bisher ermöglichte, nachgelassen hat.

die furche: In der Diskussion kommt immer wieder auch der Vergleich mit den Vereinigten Staaten ins Spiel. Ist ein solcher Vergleich sinnvoll? Ist es wünschenswert, dass Europa versucht, militärisch, politisch, wirtschaftlich ein Gegengewicht zu Amerika zu bilden? Muss Europa von Amerika lernen?

michalski: Es gibt sehr viel, was wir von Amerika lernen können. So wie das griechische Erbe über die Araber wieder nach Europa zurückgekehrt ist - denken Sie an die Aristoteles-Rezeption durch Averroes -, so ist jetzt z. B. interessant zu beobachten, dass die große europäische Tradition der Universitäten in den USA floriert, während die Universitäten in Europa selbst in eine Krise geraten sind. Die Tradition von Humboldt lebt heute eher in Massachusetts als in Berlin. Das ist nicht gegen die Humboldt-Universität gerichtet, natürlich gibt es dort und sonstwo in Europa wunderbare Leute - aber die großen Institutionen, die den Geist sozusagen produzieren, sind nicht mehr hier.

Andererseits: Gesellschaftspolitisch ist Europa enorm erfolgreich, da brauchen Sie nur zum Vergleich hier aus dem Fenster zu schauen und in Boston. Armut gibt es selbstverständlich auch bei uns, aber Armut dort, in den USA, bedeutet doch etwas anderes.

Zum Militärischen kann ich nur sagen: Es wäre sicher sinnvoll, wenn Europa Kapazitäten hätte, seine Probleme, die sich nicht immer friedlich lösen lassen, selbständig in die Hand zu nehmen, ohne sich ständig auf Amerika verlassen zu müssen.

die furche: Sie haben einerseits die Eliteuniversitäten angesprochen, andererseits die großen Lücken im Sozialnetz: Sind das nicht die zwei Seiten der Medaille des angelsächsischen Systems? Eines Systems, das eben ein sehr hohes Maß an individueller Freiheit ermöglicht, gleichzeitig aber viel mehr Ungleichheit zur Folge hat, so dass diejenigen, die aus welchen Gründen immer nicht mitkommen, viel tiefer fallen, als bei uns?

michalski: Das mit den Universitäten stimmt so nicht. Das Universitätssystem ist jedenfalls sicher nicht ohne gesellschaftliche Sensibilität, d. h. es gibt durchaus die Bestrebungen, das System auch den breiten Bevölkerungsschichten zu öffnen. Man kann darüber streiten, ob das funktioniert, aber das ist vorhanden.

die furche: Wie erlebt jemand, der, wie Sie, in beiden Welten lebt, diese europäische USA-Diskussion? Einerseits haben wir hier massiv antiamerikanische Tendenzen, Rudolf Augstein im Spiegel etwa, andererseits wird in konservativen Blättern suggeriert: "Vergesst Europa!", dieses Europa hat keine Chance, wenn es sich nicht entschiedener an Amerika orientiert - "Amerika, du hast es besser", lautet da das Motto.

michalski: Es ist tatsächlich eine Frage, an der sich die Geister scheiden. Manchmal freilich sind die Argumente nur Ausdruck eines Bauchgefühls. Eine vernünftige Diskussion kann man nur führen, wenn man konkret wird, wenn man auch eigene Vorurteile mitreflektiert. Ich bin in Europa geboren und aufgewachsen, und es gefällt mir hier sehr. Ich habe Glück gehabt. Es gab aber Millionen im 19. und 20. Jahrhundert, die nicht so glücklich waren und deshalb nach Amerika ausgewandert sind. Das gibt es jetzt nicht mehr in diesem Ausmaß, deswegen können wir auch lockerer über die Unterschiede sprechen.

Jetzt könnte ich als Europäer sagen, dass für mich der springende Punkt die europäische Pluralität im Unterschied zur amerikanischen Uniformität ist. Das ist interessant, weil "Pluralität" ein Begriff der amerikanischen Philosophie bzw. Politikwissenschaft ist. Aber Europa ist so unterschiedlich, wenn Sie 50 Kilometer weit fahren, sind Sie unter Umständen schon in einer ganz anderen Welt, es ist alles anders: die Sprache, die Sitten, die Geschichte, die Landschaft. Das ist natürlich ein Hindernis für das freie Spiel der Marktkräfte, es geht alles komplizierter, langsamer, vielleicht auch bürokratischer.

die furche: In letzter Zeit wird die Last der Geschichte wieder sehr deutlich spürbar in Europa. Nun steht die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten nach dem Krieg auf der Tagesordnung. Wie erklären Sie sich das?

michalski: Diese Rückkehr der Geschichte hat ganz allgemein damit zu tun, dass die vorkommunistischen Traditionen dieser Länder 50 Jahre lang unterdrückt waren. Sie sprechen von einer Last - aber was ist die Alternative? Keine Geschichte? Die Geschichte macht uns zu dem, was wir sind. Man muss die Probleme zunächst einmal sehen.

die furche: So gesehen hätte etwa die wieder aufgebrochene Diskussion um die BenesÇ-Dekrete ihr Gutes...

michalski: Ja, auf jeden Fall ist die Diskussion nichts Böses. Das heißt nicht, dass es nicht auch dämliche Beiträge zu dieser Debatte gibt. Besonders, wenn sich Politiker dieser Themen für ihre kurzfristigen Ziele bedienen.

die furche: Michael Naumann hat kürzlich in der Zeit gefordert: "Etwas mehr Gegenwart, bitte". Wir beschäftigten uns zu sehr mit Fragen der Vergangenheit, so sein Befund, und zu wenig mit drängenden Zukunftsfragen etwa der Biopolitik oder des globalen Terrors.

michalski: Ich verstehe nicht, warum man das gegeneinander ausspielen müsste. Zukunft hat keinen Sinn ohne Geschichte - und umgekehrt. Historische Fragen werden ja nicht um ihrer selbst willen abgehandelt, sondern insofern sie Relevanz haben für das, was heute geschieht - und somit auch für die Zukunft.

Das Gespräch führte Rudolf Mitlöhner.

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