Im Hinduismus bilden Gott und Mensch eine Einheit

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In Zeiten, in denen indische Hindufanatiker Schlagzeilen machen, tut seriöse Information über Südasiens Hauptreligion not.

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In Zeiten, in denen indische Hindufanatiker Schlagzeilen machen, tut seriöse Information über Südasiens Hauptreligion not.

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Bücher über den Hinduismus beginnen oft mit einer Entschuldigung: Indien sei geographisch, ethnisch, sprachlich, religiös viel zu komplex, um etwas Verbindliches darüber sagen zu können. Wie sollte man Millionen Götter, tausend Kasten, hundert Sprachen und Dialekte auf einen Punkt bringen? Undurchschaubar seien die Riten und Kulte, ein Dschungel, ein Schwamm, der alles aufsaugt, ein Netz, in dem sich alles verfängt, ein Banyan-Baum, bei dem alles verkehrt herum ist, weil unendlich viele Wurzeln von den Ästen in den Boden wachsen ...

Diese Vergleiche sind jetzt nicht mehr haltbar. Denn ein neues Buch, 500 Seiten lang, bahnt mit höchster Genauigkeit einen Weg durch das Dickicht. Der Autor Axel Michaels, Jahrgang 1949, Professor für Klassische Indologie am Südasien-Institut der Universität Heidelberg, hat nach 20 Jahren intensiver Auseinandersetzung mit dem Thema ein Standardwerk vorgelegt: "Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart".

Was also ist Hinduismus? Axel Michaels lehnt die Behauptung ab, er sei formlos; allenfalls habe er eine vom Monotheismus abweichende Form: "Weder gibt es einen Religionsstifter noch eine Kirche oder ein religiöses Oberhaupt. Es gibt auch nicht ein heiliges Buch oder eine Lehre, nicht ein religiöses Symbol oder ein heiliges Zentrum. Somit konnte auch keine für alle verbindliche religiöse Autorität entstehen."

Ein Gott, viele Götter Wie, so fragt der Gelehrte weiter, ist es möglich, daß monotheistische Verehrung eines Gottes wie die vieler Götter, Dämonen und Geister nebeneinander stehen? Daß der Glaube an die Beseeltheit von Steinen und Bäumen, Animismus und Pantheismus, ebenso praktiziert wird wie der Glaube an Hochgötter? Daß Religiosität gelebt wird als Ritual, ausgeführt von der Priesterkaste der Brahmanen, daneben auch spiritualistisch und mystisch - man denke an die Asketen und die Yogis. Puritanismus trifft auf wilde, berauschte Kulte.

Denken, fühlen und handeln Inder also anders als die übrigen Menschen? Ehe der Leser eine Antwort erfährt, breitet Axel Michaels zunächst historische Grundlagen aus. Er verfolgt die Spuren der Religiosität der Ureinwohner des Subkontinents, die Eingang fanden in die Religion der indoiranischen Viehnomaden. Diese drangen im zweiten vorchristlichen Jahrtausend von Zentralasien oder dem Vorderen Orient in teils friedlichen, teils kriegerischen Streifzügen in den nördlichen Panjab ein. Er analysiert die heiligen Schriften dieser Zuwanderer, die Veden. Er zeigt, welche Wandlungen die Religion durch viele Reformbestrebungen bis zum modernen Hinduismus erlebte. Er führt ins Alltagsleben der Hindus und zeigt die zahlreichen Rituale, die den Hindu in die Gesellschaft einbinden.

Blick für Befremdliches Nicht wertend, aber auch nicht unkritisch öffnet er den Blick für Befremdliches, etwa Witwenverbrennungen. Anschaulich, auch durch Fotografien, wird das Sozialsystem vorgestellt, die gesellschaftliche Hierarchie, vor allem das Kastenwesen. Michaels gelingt eine leidenschaftliche Darstellung: "Für die indo-arischen Familienverbünde blieb offenbar nur ein Weg zwischen Extremen: entweder Ghettoisierung mit der Gefahr der Isolation und ökonomischer Stagnation oder die Assimilierung mit der Gefahr der Auflösung des sozio-religiösen Verbundes." In jedem Fall würde der Zusammenhalt der einstigen Stammesverbände trotz veränderter ökonomischer Bedingungen für unverzichtbar gehalten, offenbar weil er den entscheidenden Teil der sozialen Identität ausmachte.

Vergleichbar sei dies mit modernen Abgrenzungsstrategien wie Rassismus, Apartheid oder rassisch begründetem Nationalismus, bei denen ebenfalls Reinheitsideologien zur Aufrechterhaltung meist verlorengegangener Identität propagiert werde. Die meisten Hindus, so Michaels, wollen gar nicht aus dieser für westliche Augen diskriminierenden Sozialstruktur ausbrechen, weil sie vom Konzept der Reinheit und Unreinheit zutiefst überzeugt sind. Das hat nichts mit Schmutz zu tun, sondern mit religiösen Vorstellungen. Für die Unberührbaren freilich ist so die Ungerechtigkeit festgeschrieben.

Axel Michaels findet eine Formel, die hinduistisches Denken zumindest näher bringt: es ist dies der "identifikatorische Habitus". Im Christentum herrscht der Dualismus Gott - Mensch. In Indien bilden Gott und Mensch eine dualische Einheit. Indem sich der Mensch dem Gott, den Göttern zum Opfer bringt, wird er mit dem Göttlichen eins. Das erklärt Indiens oft aufreibenden Gleichmut: Tier und Pflanze, Freund und Feind, Diesseits und Jenseits, alles ist identisch.

DER HINDUISMUS. Geschichte und Gegenwart Von Axel Michaels. Verlag C. H. Beck, München 1998, 458 Seiten, geb., öS 423,

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