Im Land der Stundenblumen

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Was in den Ferien (theoretisch) möglich ist, wünschen sich Kinder eigentlich immer: endlos spielen können - ohne Uhr im Hintergrund. Über das kindliche Zeiterleben in Praxis und literarischer Fiktion.

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Was in den Ferien (theoretisch) möglich ist, wünschen sich Kinder eigentlich immer: endlos spielen können - ohne Uhr im Hintergrund. Über das kindliche Zeiterleben in Praxis und literarischer Fiktion.

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Wohin die Zeit verrinnt, ist vielen Menschen ein Rätsel. Doch woher sie kommt, scheint spätestens seit Michael Endes Märchen-Roman "Momo" aus dem Jahr 1973 geklärt zu sein. Es ist Meister Secundus Minutius Hora, der sie im Nirgend-Haus in der Niemals-Gasse verwaltet und jedem Menschen die Zeit zuteilt, die für ihn bestimmt ist. Der fantastische Ort ihres Entstehens, den Momo nach ihrer Flucht vor den grauen Herren betreten darf, ist voll Zauber: Unter einer gewaltigen Kuppel aus Gold schwingt ein ungeheures Sternenpendel langsam über einem Teich hin und her. Wenn es sich dem Rand nähert, taucht dort aus dem Wasser eine Blütenknospe auf, öffnet sich in größter Herrlichkeit -und beginnt zu verwelken, sobald sich das Pendel wieder entfernt. Es ist nicht die Zeit aller Menschen, die Momo hier bestaunt; es sind die Stundenblumen in ihrem eigenen Herzen, deren Blühen und Vergehen sie betrachtet.

Bitte Uhren, die langsamer gehen!

Kaum ein Buch hat die Vorstellung von der Vergänglichkeit der Lebenszeit so sehr geprägt wie Michael Endes Geschichte vom alterslosen Mädchen Momo, das gegen die Zeit-Diebe kämpft. Dass Stunden gnadenlos vergehen oder von trickreichen Effizienzpropheten sogar geraubt werden können, ist für erwachsene Menschen durchaus plausibel. Kleinen Kindern hingegen ist die Vorstellung, dass Zeit einfach so vergeht und von Uhren objektiv gemessen werden kann, völlig fremd. Anders als Erwachsene kann es ihnen nicht nur passieren, dass sie zwei gemütliche Stunden auf der Couch wie fünf Minuten erleben: Sie gehen auch davon aus, dass die solcherart verbrachte Zeit genau so lang gedauert hat wie gefühlt.

"Dass man Längen mit einem Metermaß messen kann, ist schon im frühen Kindergartenalter klar", weiß die deutsche Verhaltensbiologin Gabriele Haug-Schnabel. "Aber die Uhr, die im Kreis herum geht, ist für sie völlig unverständlich." Seit Jahren erforscht Haug-Schnabel, die in Freiburg sowie Salzburg lehrt und am 14. Juli bei der "Pädagogischen Werktagung" referieren wird, das Zeiterleben von Kindern. Zeit ist für sie mehr als ein Blick auf die Uhr - weshalb man statt des Wortes "morgen" auch gleich "in 20 Jahren" sagen könnte. Wie originell kindliche Zeitkonzepte sind, hat Haug-Schnabel erst jüngst in einem Waldkindergarten auf der Schwäbischen Alb beobachtet. "Ein Bub hat gesagt: Unsere Spielzeit ist viel zu schnell vorbei. Wir wollen euch eine Uhr schenken, die langsamer geht." Ein anderer hat die Zeit gleich mit einem Kebab verglichen: Manchmal sei die Zeit eben "sehr scharf", ein anderes mal "nur ein bisschen".

So "zeitlos" Kinder also leben und spielen, so problematisch ist es, ihr Leben allzu eng zu takten. Ständige Unterbrechungen und neue Angebote hindern sie daran, in eine Tätigkeit wirklich einzutauchen - doch erst diese Vertiefungszeit, das Probieren, Nachahmen und Variieren führt dazu, dass das sich Erlebte im Gehirn "setzen" kann. Drei Stunden lang mit Kübel und Schaufel am Meeresstrand zu sitzen, prägt sich am Ende stärker ein als von einem Ferien-Event zum nächsten zu hetzen.

Zeit haben -und sie selbst strukturieren können: Das war für Astrid Lindgrens "Kinder aus Bullerbü" noch ganz normal. Heute ist kindliche Zeitgestaltung oft fremdbestimmt: Nicht nur durch Mütter und Väter, die es allzu gut meinen, sondern auch durch Computer und Smartphone. Den Kleinen klar zu machen, was sie mit ihrer Zeit alles tun könnten, ist deshalb die neue Herausforderung für Eltern und Pädagogen, betont die Tübinger Erziehungswissenschafterin Renate Thiersch. Doch "die Großen" müssten mit gutem Beispiel vorangehen: Das beginnt damit, den Morgen nicht immer mit "Oh, Gott, wir kommen zu spät!" zu starten, und führt dazu, sich selbst Zeit zu nehmen für gute Gespräche - und ein gutes Buch.

Exemplare, in denen Zeit eine Rolle spielt, gibt es jedenfalls genug, wie Thiersch bei einem Arbeitskreis in Salzburg zeigen wird. Ein Klassiker für Kinder ab sechs Jahren ist etwa Antje Damms Büchlein "Alle Zeit der Welt", das verschiedenste Zeit-Dimensionen durch Fotos, Bilder und Denkanstöße sicht-u nd spürbar macht: von der Sommerzeit über die Aufräumzeit bis zur Haltbarkeitszeit eines Kürbis. Ebenfalls für Volksschulkinder geeignet ist Meike Haberstocks Opus "Anton hat Zeit. Aber keine Ahnung, warum!". Das Buch (dessen Lektüre laut Haberstock ungefähr so lange dauert, wie wenn ein Kind alle seine Kuscheltiere eincremen und ihnen anschließend dabei zusehen würde, wie sie von Mama in der Waschmaschine gewaschen werden!) bietet grandiose Wortund Gedankenspiele über die zeitlichen Parallel-Universen von Kindern und Eltern.

Die Zeit anhalten - oder umkehren?

Was die gestresste Mutter plagt ("Himmel, wo ist nur schon wieder die Zeit geblieben?"), treibt übrigens auch das weiße Kaninchen mit seiner Taschenuhr in "Alice im Wunderland" in den Wahnsinn; Peter Pan und Pippi Langstrumpf hingegen haben beschlossen, die Zeit gleich anzuhalten und das Altern einzustellen, während die übereifrige Hermine in "Harry Potter und der Gefangene von Askaban" lieber eine Zeitumkehr-Maschine nutzt, um auf Hogwarts ihr Überpensum an Schulfächern bewältigen zu können.

Für die Ferien passen aber Geschichten jenseits des Schulkosmos' auch ganz gut: zum Beispiel Dave Sheltons Kammerspiel "Bär im Boot"(Carlsen) über einen namenlosen Buben, der mit einem ebenso namenlosen Bären über die Meere schippert und sich auf die tägliche Teezeit freut; oder Thomas Mendls Fantasy-Roman "Im Land der Stundendiebe"(Oetinger), in dem die zwölfjährigen Zwillinge Ben und Anna im Jahr 1919 landen; oder eben "Momo", diese fantastische Geschichte über die Zeit. Nachdem Momo die geraubten Stundenblumen aus dem Vorratsspeicher der grauen Herren befreit hat, wirbelt eine Blütenwolke über das Land. "Jeder konnte sich zu allem so viel Zeit nehmen, wie er brauchte und haben wollte", heißt es am Schluss. Nur die Erwachsenen haben das noch immer nicht begriffen.

Momo

Von Michael Ende. Mit Bildern des Autors. 15. Auflage. Thienemann 2015. 301 Seiten, gebunden, € 15,50

Alle Zeit der Welt Anlässe um miteinander über Zeit zu sprechen.

Von Antje Damm. 6. Aufl., Moritz 2015.96 S., mit zahlreichen, farbigen Abb., geb., € 14,20

Anton hat Zeit. Aber keine Ahnung, warum!

Von Meike Haberstock. Oetinger 2015, 108 Seiten, gebunden, € 13,40

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