Im Schatten des Krieges

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Die US-Intervention in Afghanistan gefährdet auch den labilen Frieden zwischen Hindus und Moslems in Indien. Die Spannungen können sich jederzeit wieder in Unruhen wie 1993 in Bombay entladen. Diese veranlassten Teesta Testalvad, eine Journalistin, ein Schulprojekt zu entwickeln, um religiösen Chauvinismus abzubauen.

die furche: Was war es an den Unruhen in Bombay 1993, das sie zur Gründung Ihrer Aktion "Communalism Combat" veranlasste?

teesta testalvad: Ich sprach damals als Journalistin mit vielen Menschen. Ein großer Teil von ihnen war sehr verstört. Sie hatten den Eindruck gehabt, dass Indien sich als säkularer Staat verstand. Doch in diesen fünf oder sechs Wochen, als die Spannungen zwischen Hindus und Muslimen in der Stadt eskalierten und sich dann in extremer Gewalt entluden, da sah plötzlich alles ganz anders aus: Die dünne Zivilisationsschicht war verrutscht, die Masken waren weg. Da verweigerten Ärzte den Schwerverletzten die Behandlung, weil sie beschnitten (also Muslime; Anm.) waren. Lehrer verhielten sich abscheulich in den Klassenzimmern, Kinder schnitten andere Kinder. Und die Menschen begannen sich zu fragen, was da schief gelaufen war, wie so etwas hatte passieren können. Auch mir war klar: Wir mussten bei den Kindern ansetzen. Eine kleine, elitäre Schule, die "Bombay International School", gab mir die Gelegenheit, in der Schule mit neuen Lehrinhalten zu den Themen Geschichte, Religion und Gesellschaft zu experimentieren, woraus ich dann einen alternativen Lehrplan entwickelte.

die furche: Lassen sich auf diese Weise latente religiöse Konflikte abbauen?

testalvad: Wir wollten einfach weg von einer Geschichte, die aus dem kolonialen Blickfeld gelehrt wird. Von den Briten stammt schließlich die Einteilung der indischen Geschichte in drei Perioden:

* die alte hinduistische Periode;

* das muslimische Mittelalter: Ab dem elften Jahrhundert sind nämlich muslimische Invasoren vom Westen her in den Subkontinent vorgedrungen, und muslimische Dynastien haben in der Folge große Teile des heutigen Indien, Pakistan und Bangladesch beherrscht;

* und ab dem 17. und 18. Jahrhundert die Kolonialzeit, die die Briten bemerkenswerterweise aber nicht als christliche Ära klassifizierten. Diese Einteilung hat das unabhängige Indien übernommen. Zunächst geht es nun darum, unseren Blick zu entkolonialisieren. Wir müssen weg von diesem Schema der hinduistischen und muslimischen Perioden wie auch davon, Herrscher der Vergangenheit nach unseren heutigen gemeinschaftsbezogenen, kommunalen Kriterien zu klassifizieren, zu sagen, dieser Herrscher war religiös bestimmt, jener war säkular. Wir müssen bereits unsere Kinder lehren, dass Herrscher mit vielfältigen Motivationen agieren.

die furche: Gilt das auch für die "Herrscher" im heutigen Indien?

testalvad: Heute passt es ins Konzept der rechten Hindu-Parteien, mit sehr engen Begriffe zu agieren. Als sie die Moschee in Ayodhya zerstören wollten, nahmen sie das Bild des primitiven muslimischen Aggressors, der in Indien eingefallen war und einen bestehenden Tempel zerstört hatte, um diese Moschee zu errichten. Wir aber sind der Ansicht, dass wir Geschichte kritisch lehren müssen - und zwar weder als Hindus noch als Muslime noch als Christen.

die furche: Wie schwer ist solch ein neuer Zugang durchzusetzen in Zeiten, da nicht nur die Nationale Freiwilligenorganisation RSS, die ideologische Mutter aller radikalen Hindugruppierungen, sondern auch die auf Bundesebene in Koalition regierende Indische Volkspartei BJP in eine ganz andere Richtung tendieren?

testalvad: Die RSS ist tatsächlich ein gewaltiges Lehrunternehmen in diesem Land. Sie haben 20.000 Schulen und mehr als eine Million Schüler pro Jahr. Ich habe einige ihrer Lehrbücher untersucht, und deren Weltsicht ist eindeutig: Sie sprechen über alle Religionen, die ihren Ursprung nicht auf dem Subkontinent haben, als fremde. Christen, Muslime und Parsen sind somit Ausländer. Wenn sie in Hindustan leben wollen, müssen sie Hindus werden oder als Hindus leben. Die Schulbücher der RSS glorifizieren auch das Kastensystem. Sie sprechen weiters davon, dass Indien eine starke Atommacht sein muss und verurteilen jedes Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit, wie es etwa der Herrscher Ashok ablegte. Er hatte nach einem der blutigsten Kriege, den er austrug, schwere Gewissensbisse und trat daraufhin zum Buddhismus über. Damit wurde er lange vor Mahatma Gandhi zu einem Symbol der Gewaltlosigkeit. Radikale Hindus verurteilen ihn dafür, das indische Volk "entmännlicht" zu haben. Mit eben solch einer Ideologie rechtfertigte auch der Mörder von Mahatma Gandhi seine Tat. Er behauptete, Gandhi wäre für die Entmännlichung des Hinduismus verantwortlich. Damit habe er auch die Teilung des Subkontinents und die Schaffung von Pakistan als einem eigenen Staat für die Muslime zugelassen. Ähnlich die Vorstelllungen der BJP. Ihre neue Bildungspolitik zielt darauf ab, Sanskrit als Pflichtfach einzuführen. Es heißt zwar, es soll weiterhin über alle Religionen gelehrt werden, doch die selben Leute, die das behaupten, erklären zugleich, dass alle Religionen, die ein Heiliges Buch haben, Intoleranz verbreiten.

die furche: Geschichtsunterricht erhalten indische Kinder erstmals im Alter von acht Jahren. Was lässt sich da vermitteln?

testalvad: Unsere Grundidee ist, Geschichte zu beleben und einen ganz neuen Zugang zu finden. Kommunalismus kommt erst später. Am Anfang sprechen wir über Familiengeschichten, aber auch über das Leben verschiedener Menschen in Bombay, also etwa dem von Tagelöhnern. Wir wollen weg von dem gettoisierten Denken wie auch von dem elitären Weltblick, mit dem Kinder in den englischsprachigen Schulen des Landes erzogen werden, wo man nie auf die sozialen Probleme blickt, denen sich Indien gegenübersieht, ob es nun um Armut geht oder um Kinderarbeit oder um die Unberührbaren.

die furche: Wie sind die Reaktionen, wenn Sie vom Kastensystem sprechen?

testalvad: Das ist nicht leicht. Niemand kann behaupten, dass es keine Kasten gibt. Aber viele Eltern und Lehrer würden uns gerne weis machen, dass das Kastensystem wirklich nur mehr auf dem Land eine Rolle spielt und nicht in der Stadt. Dann geben wir ihnen Beispiele aus dem Leben, etwa welchen Kasten jene angehören, die unsere Straßen und Kanäle reinigen, und warum es nur Leute aus bestimmten Kasten sind, die diese Arbeiten verrichten. Oder wir erzählen von einer Dalitfrau, die in einem zwölfstöckigen Gebäude die Toiletten reinigen muss, aber nicht einmal den Lift benutzen darf, da sie ja als unberührbar gilt. So ist die Realität auch in Bombay, wir schaffen es nur, diese Menschen zu ignorieren. Wenn wir das Thema so über Beispiele aus dem Leben darstellen, wird dann irgendwo doch das Gewissen der Leute angesprochen.

die furche: Aber was Sie sagen, deutet doch darauf hin, dass tief drinnen vielen das Weiterbestehen der Unberührbarkeit doch unangenehm ist.

testalvad: Es ist ihnen unangenehm, wenn man sie direkt damit konfrontiert. Aber das heißt nicht, dass sie etwas dagegen tun. Ich sage immer, die größte Heuchelei ist es zu behaupten, wir hätten eine so lange Tradition der Gewaltfreiheit, wenn wir tatsächlich derartige Gewalt an unseren eigenen Leuten, den Dalits, verüben.

die furche: Welches Denken wird in Indien letztlich die Oberhand behalten? Eines, wie es Ihr Projekt vermittelt, oder das der Hindu-Organisationen und der BJP?

testalvad: Soziologen und Politologen sagen, die BJP mit ihrer Hindutva-Ideologie wird es nie schaffen, eine Alleinregierung in diesem Land zu bilden. Aber manchmal habe ich Angst. Sie haben schon jetzt viel Erfolg mit der Institutionalisierung und Legitimierung von Vorurteilen. Was sie im akademischen Bereich und über neue Schullehrpläne anpeilen, ist erschreckend.

Das Gespräch führte Brigitte Voykowitsch.

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