In Sorge um den sozialen Zusammenhalt

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Im Rahmen des Projekts "Sozialwort - Eine Initiative der christlichen Kirchen in Österreich" wurden mehr als 500 Erfahrungsberichte über die bestehende soziale Praxis ausgewertet. Ergebnis: Christliche Sozialarbeit ist für Österreich unersetzlich, wird aber zunehmend bedroht. Die furche dokumentiert die Zusammenfassung des Mitte dieser Woche präsentierten "Sozialberichts".

Die Sozialarbeit der christlichen Kirchen ist für Österreich unersetzlich und in der Öffentlichkeit weitgehend unbestritten - und wird angesichts der zunehmenden "Privatisierung" wichtiger sozialer Aufgaben des Staates weiter an Bedeutung gewinnen. Gleichzeitig aber bedrohen eine Vielzahl finanzieller und gesellschaftlicher Entwicklungen, aber auch innerkirchliche Probleme die künftige Aufrechterhaltung dieses entscheidenden Dienstes an der Solidarität und Nächstenliebe - und damit den "sozialen Grundwasserspiegel" in unserem Land.

Zu diesem Ergebnis kommt die große "Standortbestimmung" der 14 in Österreich vertretenen christlichen Kirchen, die derzeit als erste Phase des "Projektes Sozialwort" - einer Initiative des "Dialogs für Österreich" folgend - österreichweit die soziale Praxis der Kirchen und die politischen und gesellschaftlichen Trends beschreibt.

Anders als in vielen Ländern Europas ist es in Österreich gelungen, für dieses Großprojekt die konfessionellen Grenzen zwischen den christlichen Kirchen zu überwinden und durch die enge Zusammenarbeit von Kirchen östlicher und westlicher Tradition einen "ökumenischen Meilenstein" zu setzen.

Aus insgesamt 522 Einsendungen sozialer Institutionen und Initiativen sowie engagierter Christinnen und Christen wurde in den vergangenen Monaten aus den rund 6.200 eingegangenen Seiten der jetzt vorliegende "Sozialbericht" erstellt, der - in 22 Kapitel gegliedert - einerseits ein Spiegelbild des sozialen Engagements ist, andererseits ein besorgniserregendes Szenario der künftigen Tragfähigkeit des sozialen Netzes in Österreich wiedergibt.

Jetzt geht es um Wege aus der Gefahr

Die Fülle der im Sozialbericht aufgezeigten Probleme, Wünsche und Forderungen an Kirchen, Gesellschaft und Politik soll nun in einem über mehrere Monate andauernden breiten Diskussionsprozess zu einem gemeinsamen "Sozialwort" aller christlichen Kirchen führen: als Appell an Kirchen, Öffentlichkeit und Staat - und als ein Versuch, konkrete Wege aus den erkannten Problemen und Schwierigkeiten aufzuzeigen.

Die Auswertung der äußerst praxisorientiert, kritisch und selbstkritisch formulierten Texte aus allen Bereichen sozialer Praxis zeigt zunächst, welch bedrohliche Vorzeichen das soziale Engagement der Kirchen überschatten. Hier nur eine kurze Zusammenfassung:

n die finanziellen Ressourcen des States werden zunehmend knapper. Dieser enger werdende budgetäre Spielraum lässt nicht nur geringere Subventionen befürchten - ihre Auszahlung ist für die bestehenden sozialen Einrichtungen aufgrund ihrer kurzfristigen und zunehmend nur befristeten Vergabe - nicht mehr einplanbar.

n Gleichzeitig wird ein starker Trend zur Auslagerung der Zuständigkeiten des Staates im Sozialbereich an private Trägerorganisationen spürbar ("Weniger Staat"). Für die kirchlichen Sozialdienste bedeutet dies: höhere Professionalität auch in ehrenamtlichen Bereichen, verstärkter Kostendruck, wachsende Verwaltungsaufgaben - und zunehmende Konkurrenz zwischen sozialen Einrichtungen, von denen manche ihr Überleben durch "Dumping-Angebote" abzusichern suchen.

n Der rasche Umbau der Alterspyramide in Österreich, die steigenden gesellschaftlichen Erwartungen an soziale Betreuung (zum Beispiel Sterbebegleitung), die tiefgreifenden Veränderungen der Arbeitswelt - mit vielen "Verlierern" - sowie verschiedene "neue Krankheiten" führen zu einer deutlichen Zunahme von "Bedürftigen" und zu immer neuen, personalintensiven Betreuungsaufgaben.

Enorme Leistungen bewusster machen

Im Zeichen einer dramatischen Verknappung der finanziellen und personellen Ressourcen sozialer Dienste in Österreich wird in vielen Einsendungen der Ruf nach einem Überdenken beziehungsweise einer Neuordnung christlicher Sozialarbeit laut. So werden unter anderem eine Fokussierung auf Kernkompetenzen (Spezialisierung) im Sozialbereich, die Schaffung neuer innovativer Sozialprojekte und verstärkte ökumenische Kooperation und Vernetzung - auch ad-hoc-Allianzen - mit anderen Sozialeinrichtungen empfohlen. Die Kirchen werden auch zu mehr Öffentlichkeitsarbeit gedrängt, um ihre großen Leistungen an gelebter Mitmenschlichkeit bewusster zu machen und neue private Förderquellen zu erschließen. Kritisch setzen sich die über 500 Beiträge zum "Sozialbericht" auch mit Entwicklungen in der österreichischen Politik und Gesellschaft auseinander. Der weite Bogen konkreter Anregungen, Wünsche und Forderungen verschiedenster sozial-engagierter christlicher Gruppen reicht von

n der Aufwertung des Ehrenamtes (Versicherungsschutz, steuerliche Absetzbarkeit, Freistellung zur Weiterbildung, Anrechenbarkeit auf Pensionszeiten)

n über stärkere Frauen-, Kinder- und Familienrechte (aber auch einer größeren Unvoreingenommenheit gegenüber "neuen Formen von Lebensgemeinschaften")

n einer finanziellen Grundsicherung - unter anderem für Haftentlassene

n einer nachdrücklicheren schulischen Erziehung der Jugend zu Gewaltfreiheit, Frieden und sozialer Kompetenz

n der Steuerabzugsfähigkeit von Spenden (die in anderen EU-Ländern längst verwirklicht ist) - bis zu einer menschenwürdigen Flüchtlings- und Asylpolitik

n und einer rascheren und unbürokratischeren Vergabe staatlicher Sozialhilfen.

Auf der Suche nach den Freiwilligen

Diesen gravierenden Entwicklungen stehen diametral entgegengesetzte gesellschaftliche, aber auch innerkirchliche Trends gegenüber:

n die Bereitschaft zum solidarischen Engagement nimmt ab. Individualisierung, Vereinzelung und Isolierung schreiten fort, die Egozentrik (Rückzug ins Private, zunehmende Konsumhaltung) gewinnt zusehends an Boden. Mehr und mehr Menschen sind, wenn überhaupt, nur noch zu kurzfristigen freiwilligen Projekt-Einsätzen bereit - unter Jugendlichen ist diese Tendenz besonders deutlich ausgeprägt.

n Wachsende Desintegrationstendenzen in der Gesellschaft verschärfen diese Entwicklung weiter. Die tradtitionellen privaten Sozialstrukturen und Bezugssysteme (Ehen, Familien) erweisen sich als zunehmend instabil und nicht mehr so belastbar.

n Der Rückgang bei ehrenamtlichen Mitarbeitern ist eklatant; nicht zuletzt durch schwindende öffentliche Attraktivität der Kirchen, durch Personalschwund bei Ordensgemeinschaften, die bisher als Träger vieler sozialer Aktivitäten auftraten - und durch Überbelastung und Resignation bei vielen Ehrenamtlichen, die unter wachsender Aufgabenlast aber weitgehend fehlender öffentlicher (auch sozialer) Anerkennung leiden.

n Zu alledem kommt noch ein spürbarer Rückgang bei den Spendenaufkommen zugunsten sozialer Projekte. Die bisher beispielhafte Spendenbereitschaft der Österreicher lässt unter dem Druck - oder der Angst - vor höheren finanziellen Belastungen und im Zeichen schwindender Identifikation mit der Institution Kirche zunehmend nach. Die wachsende Distanz schlägt direkt (geringere Kirchenbeiträge, weniger Spenden) und indirekt (Imageverlust) auf die Sozialarbeit der kirchlichen Initiativen und Organisationen durch - und erzwingt Rückzug aus manchen Sozialbereichen.

Kirchen: noch mutiger, kritischer

Trotz dieser besorgniserregenden Entwicklungen wächst der Werte- und Sinnbedarf der Menschen in Österreich - und ihre Suche nach stabilen moralischen Instanzen. Die Kirchen würden - so lautet eine der zentralen Erkenntnisse des "Sozialberichtes" - diese große Aufgabe freilich nur dann erfüllen können, wenn sie ihre Option für die Benachteiligten, Schwächeren, Ärmeren und "Anderen" in der Gesellschaft künftig noch weit mutiger, kritischer und glaubwürdiger als bisher darstellen könnten.

Soziales Engagement sei - so der Tenor zahlreicher Beiträge zum "Sozialbericht" - ein wesentlicher Grundzug des gelebten Christentums - Sozialität und Solidarität gehören unverzichtbar zum Menschsein.

Überraschend stark wird in diesem Zusammenhang die Erwartung geäußert, dass die christlichen Kirchen bereit und fähig seien, ihren "sozialpolitischen Flügel" zu stärken; also neben ihrer spirituellen und karitativen Arbeit auch die Bewusstseinsbildung und das politische Engagement zu intensivieren. Sie müssten bestehende Strukturen des Unrechts und der Verhinderung von Chancengleichheit weit deutlicher als bisher benennen und unbeirrt von gesellschaftlichen Trends und politischer Opportunität ein überzeugender Anwalt der Würde des Menschen vom Embryo bis zum Sterbenden sein.

Sozialbericht fordert konkret von Kirchen:

Zu den wichtigsten Forderungen des "Sozialberichts" gegenüber den eigenen Kirchen zählen weiters:

n Kirchen sollten sich als Institution nicht zu wichtig nehmen, sondern das Evangelium verkünden und auch leben - und statt ihrer bisherigen "komm-her"-Mentalität eine "Geh-hin"-Struktur aufbauen.

n Kirchen müssten weit stärker als bisher Offenheit, Reformfreude, Toleranz und Lebensfreude ausstrahlen.

n Kirchen sollten von einer Neigung Abschied nehmen, lieber an der Seite der "Braven" und Etablierten als der Außenseiter zu stehen.

n Kirchen müssten in ihren eigenen Reihen verwirklichen, was sie von der Gesellschaft einfordern - also zum Beispiel als Wirtschaftsbetriebe klare Alternativen zu einer neoliberalen Wirtschaftspraxis bilden.

n Kirchen müssten auch durch ein gemeinsames, bewusst konfessions-übergreifendes Auftreten ihr Gewicht in der Gesellschaft verstärken.

In großer Offenheit (die eingesandten Beiträge wurden, wie der Ökumenische Rat der Kirchen in der Einleitung ausdrücklich feststellt, nicht "geglättet", sondern authentisch wiedergegeben) formulieren viele der 522 nunmehr vorliegenden Texte auch ihre Kritik in Richtung Kirche. So wird vor allem die nach wie vor bestehende Uneinigkeit zwischen Führungspersönlichkeiten der Kirche und zwischen christlichen Konfessionen nachdrücklich bemängelt - viele sozial engagierten Christen sehen darin sogar eine wesentliche Ursache für den Vertrauensverlust der Kirchen.

Viele junge Frauen auf Distanz

Kritisch ist auch die Haltung vor allem jüngerer Frauen gegenüber den kirchlichen Institutionen - viele von ihnen fühlen sich in der Kirche nicht mehr wirklich zuhause. Eine Reihe sozialer Initiativgruppen befürchtet einen Rückzug der Kirchen auf ihre traditionellen liturgischen und pfarrlich orientierten Kernbereiche - nach dem Motto: "Wir sind nicht dazu da, die Umwelt zu retten, sondern das Heil zu verkünden". Mahnende Stimmen wurden aber auch zur "unüberschaubaren Vielfalt" sozialer Institutionen der Kirchen laut, deren vielfach unkoordiniertes Nebeneinander die Kreativität nicht fördere, sondern zu wechselseitiger Lähmung führen könne.

In diesem Zusammenhang wird aber auch der eindrucksvolle soziale Beitrag gewürdigt, den neben Katholiken und Evangelischen gerade die kleineren christlichen Kirchen in Österreich leisten und damit - oft unter großen finanziellen Opfern und mit dem Einsatz aller personellen Reserven - auch für ihre Gläubigen ein wichtiges soziales Auffangnetz bereithalten.

"Tisch der sozialen Gerechtigkeit"

Vorgeschlagen wird unter anderem auch ein österreichischer "Tisch der sozialen Gerechtigkeit" als Modell für eine "Sozialpartnerschaft neu". An ihm sollten auch die sozialen Einrichtungen im Umfeld der Kirchen Sitz und Stimme haben, um so ihre reichen Alltags-Erfahrungen über soziale und humanitäre Fehlentwicklungen in Österreich in den politischen und gesellschaftlichen Diskurs einbringen zu können.

Der "Spitzenreiter" unter allen im "Sozialbericht" zitierten Forderungen an die Kirchen ist: Klare Parteinahme für die Armen und Ausgegrenzten! Ohne Geld geht es auch in der kirchlichen Sozialarbeit nicht! Organisationen und Menschen, die ihre Kraft für die Linderung von Not und Leid ihrer Mitmenschen einsetzen, wollen nicht auch noch als Bittsteller auftreten, sondern erwarten eine Würdigung und Förderung ihrer Arbeit.

Aus diesen und allen anderen Anregungen und Kritikpunkten des "Sozialberichtes" werden nun in einem intensiven Diskussions- und Klärungsprozess - vermutlich bis Pfingsten 2002 - mehrheitsfähige soziale Positionen gegenüber den eigenen Kirchen, dem Staat und der Gesellschaft erarbeitet, die in das geplante ökumenische "Sozialwort" Eingang finden sollen.

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