Indiens heilige Kühe

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In einem indischen Dorf wurden fünf Menschen ermordet, weil sie angeblich eine lebende Kuh gehäutet haben sollen.

Der Tathergang ist umstritten, eine hitzige Diskussion über Menschenrechte in Indien ist jedoch entfacht .

Und alles wegen einer Kuh", empört sich ein Student an der Delhi-Universität, ein Hindu, der nicht glauben will, dass seine Religion eine derartige Menschenverachtung rechtfertigt. "Soll uns ein Tier, und sei es die von Hindus so verehrte Kuh, wirklich heiliger sein als ein Menschenleben?"

Oder, genauer gesagt, als fünf Menschenleben. Denn fünf Dalits, Unberührbare, die unterhalb des indischen Kastensystems stehen, wurden in Dulena, einem Dorf weniger als zwei Autostunden von Neu Delhi entfernt, gelyncht, weil sie angeblich eine lebende Kuh gehäutet haben sollen. Der Tathergang ist umstritten. So hätte nach einer Version die Polizei einen Lastwagen, in dem die fünf Männer in Ausübung ihres kastenmäßigen Gewerbes Tierhäute zum Markt fuhren, angehalten, um Geld zu erpressen. Weil die Männer sich geweigert hätten zu bezahlen, hätten die Polizisten sie geschlagen und dann das Gerücht von der Schlachtung einer Kuh verbreitet, um die Bewohner der umliegenden Dörfer gegen die Männer aufzuhetzen.

Nach einer anderen Version hätten Hindus die fünf Dalits entdeckt, wie diese an der Straße die lebende Kuh häuteten und sie daraufhin attackiert. Die Nachricht von dem "Verbrechen" an der Kuh habe sich so rasch verbreitet, dass hunderte Menschen zusammengeströmt seien, die Dalits erschlagen und zwei der Toten in Brand gesteckt hätten.

Doch unabhängig von den tatsächlichen Ereignissen hat das Lynching in Dulena die Debatte über den wahren Hinduismus und die damit verbundene Frage nach dem Selbstverständnis der indischen Nation angeheizt. "Wir betrachten die Kuh als die Mutter der Welt und der Menschheit, wer also eine Kuh ermordet, ermordet unsere Mutter", erklärte ein örtlicher Vertreter des Welthindurates (Vishwa Hindu Parishad, VHP). Ein Mitglied der radikalen Hindupartei Shiv Sena wollte zwar die Morde nicht rechtfertigen, meinte aber, dass sie unter den gegebenen Umständen einfach nicht zu vermeiden gewesen wären.

Soziale Ausgrenzung

"Zählt das Leben einer Kuh wirklich mehr als das von fünf Dalits?", fragt der an der Osmania-Universität im südlichen Hyderabad lehrende Politologe Kancha Ilaiah und ergänzt: Seit Jahrtausenden sei es Aufgabe der Dalits, Tierkadaver zu entsorgen und ihre Häute zur Weiterverarbeitung zu vertreiben. "Hätten sie nicht die toten Tiere und auch menschliche Leichname entfernt, wären die Bewohner von Städten und Dörfern an schrecklichen Krankheiten gestorben." Doch was für einen Preis müssten die Dalits bis heute bezahlen.

Die Unberührbarkeit gibt es dabei offiziell gar nicht mehr. Sie wurde 1950 abgeschafft. In den indischen Medien und offiziellen Publikationen ist daher auch von den "Ex-Untouchables" die Rede oder von "Dalits", "gebrochenen Menschen", wie sich die Unberührbaren selbst nennen. Der Ausdruck steht sowohl für ihre soziale und ökonomische Ausgrenzung wie für ihren zunehmend besser organisierten Kampf gegen die Unterdrückung und um ihre Menschenrechte. Dank der in der Verfassung festgelegten Fördermaßnahmen, infolge des demokratischen Systems sowie der Selbstmobilisierung der Dalits hat sich zwar einiges geändert. So bekam Indien Ende der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts erstmals einen Dalit als Bundespräsidenten, konnte eine Unberührbare bereits dreimal Chefministerin des bevölkerungsreichsten Bundesstaates Uttar Pradesh werden und gibt es eine kleine Dalit-Mittelklasse. Doch in den Dörfern wird vielen Unberührbaren weiterhin der Zutritt zu Tempeln und Brunnen verweigert und erleiden die landesweit über 200 Millionen Unberührbaren vielfältige Diskriminierungen.

Wissenschaftliche Kritik

"Warum wird der Hindu-Nationalismus um Themen wie die Heiligkeit eines Tieres und die Unreinheit bestimmter Menschen konstruiert?", fordert Ilaiah anlässlich des Lynching von Dulena die Sangh Parivar heraus, eine "Familie" von nationalistischen Hinduorganisationen, der neben der VHP, Shiv Sena und anderen Gruppierungen auch die seit 1999 auf Bundesebene in Koalition regierende Indische Volkspartei (Bharatiya Janata Party, BJP), angehört. Wie riskant es ist, selbst wissenschaftlich fundierte Kritik am Mythos der heiligen Kuh anzubringen, hatte im Vorjahr der an der Delhi-Universität lehrende D. N. Jha erfahren müssen. Erzürnte Hindus verbrannten Exemplare seines Buches "Holy Cow: Beef in Indian Dietary Traditions", in dem der Geschichtswissenschafter anhand religiöser und historischer Texte nachwies, dass einst Kühe für Opfer bei hohen Festen geschlachtet wurden. Erst im Mittelalter hat sich Jha zufolge der besondere Schutz für die Kuh durchgesetzt. Seine Thesen sind dabei nicht neu, er hat lediglich in einem Werk umfassend behandelt, was andere Historiker schon vor Jahren geschrieben hatten.

"Ich habe nichts gegen den Schutz der Kuh und es ist auch keineswegs meine Absicht, irgendjemandes religiöse Gefühle zu verletzen", verteidigte sich Jha, der wegen seines Buches sogar Polizeischutz benötigte. "Doch wenn ich Geschichte schreibe, muss ich religiöse Empfindsamkeiten beiseite lassen", betonte er.

Gerade diese "religiösen Gefühle" aber werden von Hinduchauvinisten stets dort ins Spiel gebracht, wo Fakten und Forderungen nach Menschenrechten ihrer Ideologie zuwiderlaufen. Kritiker, die anzumerken wagen, dass es sich dabei doch um die Gefühle zumeist männlicher Hindus aus den oberen Kasten handle, haben schlimmste Anfeindungen zu gewärtigen. "Haben Frauen, Angehörige unterer Kasten und Dalits keine Gefühle?", fragte im Historikerstreit ein Wissenschafter. Nach den Morden von Dulena stellt sich nun die viel elementarere Frage nach dem Grundrecht von Dalits auf Leben. Zählt das Leben eines Dalit wirklich weniger als das einer Kuh?

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