INVESTITION in Europas Zukunft

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Gehört der Islam zu Europa? Auseinandersetzung mit dem muslimischen Gelehrten Ibn Ruschd/Averroes kann zur Beantwortung dieser Frage helfen.

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Gehört der Islam zu Europa? Auseinandersetzung mit dem muslimischen Gelehrten Ibn Ruschd/Averroes kann zur Beantwortung dieser Frage helfen.

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Der Frage, ob der Islam Europa gehört bzw. Teil der europäischen Kultur ist, wird in den öffentlichen Debatten sehr oft polemisch, aber auch unterschiedlich nachgegangen und argumentiert. Ich finde diese Fragestellung an sich legitim, unabhängig davon, welche gesellschaftspolitische Relevanz sie in den aktuellen politischen Debatten hat. Denn die minimale Leistung einer eventuellen Antwort ist die Auseinandersetzung mit der Kulturgeschichte Europas als Manifestierungsform und zugleich Träger einer kollektiven kulturellen Identität.

Es ist eine offensichtliche Feststellung, dass im europäischen Kontext populistische bzw. dogmatisch rechts gesinnte Diskurse eine zwangshomogenisierte identitätsstiftende kulturgeschichtliche Vorstellung propagieren. Diese Reduzierung bleibt bei wissenschaftlicher Untersuchung eine Wunschvorstellung, die entweder eine bewusste Täuschung vornimmt oder eine intellektuelle Naivität verbirgt. Eine ideengeschichtliche Untersuchung ist deshalb wichtig, weil diese für eine Rekonstruktion kultureller Identität auch in der Gegenwart unentbehrlich ist.

Eine philosophische Tradition

Ich vertrete in diesem Zusammenhang die These, dass der Islam sehr wohl einen wichtigen Beitrag zur Geistesgeschichte Europas geleistet hat, dass die Kulturgeschichte Europas aus dieser Perspektive heterogen reich war, und dass jegliche zwangshomogenisierte Reduzierung der kulturellen Identität falsch beziehungsweise ein Betrug an der europäischen Kulturgeschichte ist.

Als konkretes Beispiel ist hier ein besonderes philosophisches wie theologisches Phänomen zu nennen, welches von der Scholastik bis in die Frühneuzeit eine lebhafte intellektuelle Dynamik bewirkt hat. Dieses ist in der europäischen Geschichte unter dem Begriff Averroismus bekannt und steht für die Rezeptionsgeschichte der philosophischen und theologischen Schriften und Lehren des muslimischen Gelehrten Ibn Ruschd (lat. Averroes, 1126-1198).

Der französische Historiker und Religionswissenschaftler Ernest Renan (1823-1892) beschreibt es in seinem Buch "Averroès et l'Averroïsme" im Jahr 1852 folgendermaßen: Es gab schon seit dem 13. Jahrhundert in Europa, besonders in Frankreich und in Italien, bis zum 17. Jahrhundert eine ununterbrochene philosophische Tradition, die man Averroismus nennen kann, weil sie ihre grundlegenden Anstöße vom arabischen "Aristoteles-Kommentator" Averroes /Ibn Ruschd erhielt.

Averroes' Lehre von der doppelten Wahrheit

Hauptzentren dieser philosophischen Tradition waren die Universitäten von Paris und Padua. Dieser Averroismus zieht Interesse auf sich durch seine Tendenz, die zentralen Hauptprobleme und Spannungsfelder zwischen Philosophie und Theologie zu betonen, er verschweigt daher kaum seine kritische Skepsis gegenüber der religiösen Wahrheit beziehungsweise Dogmen und muss als unmittelbare Vorstufe des späteren Libertinismus und Freidenkertums betrachtet werden.

Besonders die averroistische Lehre der doppelten Wahrheit bietet meines Erachtens eine Grundlage für eine theoretische Begründung der Autonomie der wissenschaftlichen Erkenntnis durch die konzeptuelle Trennung zwischen Religion und Wissenschaft beziehungsweise Philosophie.

Die Wirkung dieser Lehre ist durchgehend bis zur Frührenaissance und darüber hinaus zu beobachten. Denn es ist festzustellen, "dass der Streit um die Lehre von der doppelten Wahrheit nicht allein eine Affäre des 13., 14. und 15. Jahrhunderts war, sondern dass auch das protestantische Dogma von dem polaren Gegensatz zwischen Gesetz und Evangelium aufs Innigste mit dieser Lehre verbunden ist." So beschrieb es 1994 der deutsche Philosophiehistoriker Friedrich Niewöhner (1941-2005) in einem Aufsatz.

Die Lehre deutet nicht unbedingt auf geheime Zweifel am Glauben hin (obwohl dies in einigen Fällen so gewesen sein mag), sondern eher auf das Ideal der philosophischen und naturwissenschaftlichen Freiheit; und in diesem Sinne bahnten diejenigen, die sie befürworteten, die Lehrer der Philosophie an den philosophischen Fakultäten, den Weg für den späteren Rationalismus und das Freidenkertum, wie der deutsch-amerikanische Humanismus-Forscher Paul Oskar Kristeller (1905-1999) meint.

Man war mit dem Problem konfrontiert, dass die Religion mit den Ergebnissen der demonstrativen Wissenschaft kollidiert, indem beide über ein und dieselbe Tatsache verschiedene Aussagen machen. Als Ausweg aus dieser Schwierigkeit, und um offensichtliche Widersprüche zwischen religiösen Textaussagen und der Philosophie erklärend überwinden zu können, setzt Averroes die allegorische Interpretation ein. Damit sollen die erscheinenden Gegensätze zwischen dem äußeren Wortlaut und dem inneren, verborgenen Sinn ausgeglichen werden.

Eine notwendige Voraussetzung für eine gelungene allegorische Interpretation ist die philosophische Methode, wobei nur die Philosophen in der Lage sind, sie zu meistern. Denn im Fall zweier sich widersprechender Aussagen ist der Philosoph derjenige, der zu entscheiden hat, wie der innere Sinn und damit die Wahrheit lautet.

Es war eigentlich eine Art Hermeneutik, die Averroes zusammen mit logischen Bestimmungen und Regeln als Instrumentarium für den Umgang mit dem Text vorgesehen hat. Eine Hermeneutik, die eine Pluralität des Verstehens und in der Auslegung des Textes vorsieht, die aber eine logische und daher rationale Pluralität sein muss. Hier ist eindeutig, dass das Rationale das Einheitbildende und Bestimmende dabei ist.

Christlicher und jüdischer Averroismus

Aus der Sicht der Gegner war die unterschwellig mitgegebene Gefahr für ein Wahrheitsmonopol durch eine solche These nicht von der Hand zu weisen. Der Bischof von Paris, Etienne Tempier, listet in seiner Verurteilung der Averroisten von 1277 "den Irrtum Nr. 145" auf. Dieser lautet: "Es gibt keine durch Vernunft zu erörternde Frage, die der Philosoph nicht erörtern und entscheiden sollte, weil die Beweisgründe von den Dingen her genommen werden, die Philosophie aber nach ihren verschiedenen Teilen alle Dinge zu betrachten hat. Genau dies ist die Meinung des Averroes von den Aufgaben eines Philosophen."

Die Rezeption der Lehren von Ibn Ruschd/Averroes beziehungsweise das Phänomen eines jüdischen Averroismus ist weiter im europäischen Judentum bis zur frühen Renaissance im 16. Jahrhundert festzustellen. Der jüdische Religionsphilosoph Elia Delmedigo (1460-97) übersetzte während seines Aufenthaltes in Padua und Florenz Werke von Averroes ins Hebräische beziehungsweise ins Lateinische, er verfasste später in Kreta eine Abhandlung "Behinat ha-Dat" (Prüfung der Religion). In dieser hebräischen religionsphilosophischen Schrift knüpft Delmedigo wiederum an Averroes an.

Elia Delmedigo vertritt die These der doppelten Wahrheit, wie sie auch unter den lateinischen christlichen Averroisten seiner Zeit verbreitet war und unterscheidet zwischen Vernunft-und Offenbarungswahrheiten. Er kritisiert in seiner Abhandlung die angeblichen Philosophen, die versuchen, die Lehren der Philosophie und die Religion zu vermischen. Er ist gegenüber den mittelalterlichen jüdischen Philosophen unerbitterlich, die versuchen, Judentum und Philosophie zu harmonisieren und eine Art Amalgam daraus zu machen.

Aufgabe islamischer Intellektueller

Es ist anhand dieses Beispiels des Averroismus ersichtlich, welchen bedeutenden Beitrag zur Herausbildung der europäischen Geistesgeschichte islamische Philosophie leisten konnte. Der Islam nahm in diesem Sinne aktiv und stiftend am Prozess der kulturellen Identitätsbildung Europas teil.

In einer frappierenden Differenz dazu ist die Teilnahme und die Präsenz der Muslime in Europa in der Moderne hauptsächlich auf eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Ebene wahrnehmbar zu reduzieren. Ein aktiv anspruchsvoller Beitrag auf geistig kultureller Ebene seitens der Muslime, die in Europa leben, ist hier zu vermissen.

Vielmehr wird diese Präsenz der Muslime bzw. des Islam in Europa mit Krisen und Konflikten verknüpft. Diese Situation ist in der öffentlichen Meinung nur zu einem peripheren Teil auf eine islamophobische Haltung seitens einiger Teile der Mehrheitsgesellschaft zurückzuführen und bezeugt meines Erachtens vielmehr ein strukturelles Problem in Bezug auf das Verhältnis des Islam zur Moderne. Es ist noch als offener Prozess der in Europa lebenden Muslime wie auch Nicht-Muslime zu entscheiden und zu verantworten, ob der Islam in Europa ein konstruktiver oder destruktiver Faktor sein wird.

Entscheidend ist meiner Überzeugung nach, dass das allgemein verbreitete Islamverständnis in einer Kohärenz mit der Moderne steht. Ein solches Islamverständnis zu entwickeln, ist eine dringende Aufgabe der muslimischen Intellektuellen in Europa, dafür müssen ein passender Raum und die entsprechenden Bedingungen geschaffen werden.

Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg ist die Etablierung der islamischen Theologie an öffentlichen Universitäten und Hochschulen in einigen europäischen Ländern wie Österreich und Deutschland. Solche Schritte sind als Investition in die europäische Zukunft zu fördern und zu erweitern.

| Der Autor lehrt Islamische Theologie an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg/D |

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