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Ist das Turiner Leichentuch echt?

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Ist das Grablinnen von Turin wirklich jenes Tuch, in das der blutige Leichnam Jesu nach der Abnahme vom Kreuz sofort eingehüllt und dann ins Felsengrab gelegt wurde oder nicht? Nach wie vor wogt darüber auch unter den katholischen Gelehrten ein heftiger Streit und die Meinungen prallen bis jetzt hart aufeinander. P. E. Wünschel, derzeit Direktor der schola maior der Redempto-risten in Rom, nannte dieses Linnentuch erst kürzlich „eine akkurate, genaue Photographie des Leichnams Jesu“, ja sogar „das fünfte Evangelium“, das die „geschriebenen Evangelien in vieler Hinsicht ergänzt“. Dagegen nahm ein Fachmann für Neues Testament, Kardinal Theodor Innitzer, energisch Stellung; er wies auf die ernsten, ja unüberwindlichen exegetischen Schwierigkeiten hin, die Joh. 19, 40 und 20, 7 gegen jede Leichentuchthese bilden und schloß mit der mahnenden Frage: „Wer hat größeren Anspruch auf Glaubwürdigkeit, der Evangelist oder die mysteriöse Reliquie? Man sei in Zukunft mit den Ausdrücken .Photographie Christi' und ,5. Evangelium' etwas vorsichtiger!“

Bevor wir näher auf unser Thema eingehen, noch eine Feststellung: Wie immer man zum Turiner Leichentuch stehen mag, Hyneks unbestreitbares Verdienst ist und bleibt es, als einer der ersten die medizinischen Probleme in der Leidensgeschichte Jesu auch medizinisch untersucht zu haben. Bei solchen Grenzfragen ist der beste Exeget auf die Hilfe seines medizinischen Kollegen angewiesen und hier hat Hynek wahrlich Pionierarbeit geleistet.

Ein völlig ander Ding ist nun freilich die von Hynek so nachdrücklich verfochtene Echtheit des Turiner Leichentuches. Hat Hynek damit wirklich recht? Daniel-Rops urteilt jedenfalls bedeutend zurückhaltender. Er bedauert vor allem, daß man bis jetzt das Grablinnen weder mit ultravioletten noch mit Röntgenstrahlen untersucht noch durch chemische Analysen die angeblichen Blutspuren näher erforscht habe, und meint am Schluß seiner gründlichen und objektiven Erörterungen unseres Problems, momentan sei es „ebenso schwierig, den Betrug zu beweisen, wie die Echtheit des vielbesprochenen Tuches darzutun“. Woher nun diese reichlich verschiedenen L'rteile über unsere Reliquie? Prüfen wir einmal die eben angedeuteten Schwierigkeiten gegen die Echtheit etwas näher, und zwar zunächst a) die historischen: Bei Hynek 19 wird mitgeteilt, daß Kaiserin Eudoxia von Konstantinopel ihrer Mitherrscherin Pulcheria im Jahre 438 n. Chr. von Jerusalem aus das Grablinnen Christi übersandt habe. Bezeichnenderweise gibt Hynek keinerlei Quelle für diese wichtige Nachricht an. Nach Blinzlet 37 fehlt überhaupt jeder Beleg dafür, daß von der Kaiserin Helena außer den Kreuzreliquien auch noch ein Grabtuch Christi gefunden worden wäre. Die erste einigermaßen historisch brauchbare Nachricht über Grabtücher (also Mehrzahl!) mit Blutspuren bietet die Ulatio zur mozarabischen Ostersamstagliturgie, die höchstwahrscheinlich aus dem 7. Jahrhundert stammt. Das nächste wirklich sichere Zeugnis stammt erst aus dem ausgehenden 12. Jahrhundert vom Chronisten des 4. Kreuzzuges. Die geschichtliche Bezeugung dieser Reliquie aus der Zeit Jesu ist also ausgesprochen schlecht, und die Haltung der Kirche selbst war bis herauf in die Zeit Leos XIII. zum Teil sehr zurückhaltend.

b) Exegetische Schwierigkeiten: Hynek 196 betont, daß man »,mit Rücksicht auf die völlige Klarheit, Genauigkeit und Unversehrtheit der Blutflecken jede rituelle Behandlung der Leiche dieses Gekreuzigten (sc. auf dem Turiner Leichentuch) ausschließen muß, sowohl das Waschen wie das Kämmen der Haare... Durch jede derartige Behandlung hätten die Blutspuren verwischt, ver-

ändert und größtenteils beseitigt werden müssen ...“ Wegen des hereinbrechenden Sabbats (vergleiche Luk. 23, 54) habe man Jesus Leichnam „wohl unbekleidet und in größter Eile und Schnelligkeit in das Sindon gehüllt“ (S. 196), zu einem wirklich vollständigen rituellen Begräbnis war am Karfreitag abends „einfach keine Zeit“ (S. 189).

Wer aber Joh. 19, 39—42 einmal aufmerksam durchgelesen hat, den werden Hyneks Darlegungen kaum überzeugen. Wenn Zeit genug war, daß Nikodemus noch 100 Pfund Aloe und Myrrhe (etwa 33 kg) kaufen konnte, war es zweifellos in der Zwischenzeit auch möglich, den hl. Leichnam von Blut, Schweiß und Staub zu reinigen, bevor man ihn in die „reine Leinwand“ (Matt. 27, 59) einwickelte. Nicht nur das natürliche, allgemein menschliche Gefühl verlangt das, sondern auch der jüdische Begräbnisritus (vgl. Apg. 9, 37). Ist aber Jesus Leichnam vorschriftsmäßig gewaschen worden (vgl. Joh. 19, 40: sicut mos est Judaeis sepe-lire), dann beweisen all diese sicher interessanten Einzelbeobachtungen am blutigen Leichentuch (bzw. an dessen Photokopie) genau das Gegenteil von dem, was Hynek damit beweisen will, daß es nämlich nicht sein kann, denn für postmortale Blutungen in diesem Ausmaß fehlt jede Ursache.

Ferner muß Hynek 194, um dem^Vers Joh. 20, 7 einigermaßen gerecht zu werden, der nur von einem Schweißtuch spricht, das das Haupt Jesu bedeckte (sudarium), aber von keinem Leichentuch (sindon) für den ganzen Körper, zu der Gleichung seine Zuflucht nehmen: sindon = sudarium. Aber ein „Schweißtuch“ von 4,36 m Länge und 1,10 m Breite kann man sich ebensowenig vorstellen wie etwa heute eine „Serviette“ von dieser Größe (vgl. doch nur Luk. 19, 20, wo ein Geldstück in ein solches „Schweißtuch“ eingewik-kelt wird!).

Doch nicht nur auf kulturgeschichtlichem oder philologischem Gebiet muß Hynek seiner Auffassung zuliebe so manche Unwahrscheinlichkeit vertreten, sogar in seinem eigenen Reich, auf medizinischem Gebiet, läßt sich das gelegentlich nicht ganz vermeiden. Er schreibt z. B. auf Seite 129: bei Jesus Kreuzigung sei kein Sitzpflock (sedile) für den Verurteilten verwendet worden, da sonst auf dem Leichentuch Blutspuren zu sehen sein müßten. Nun sprechen aber nicht nur Justin, Tertullian, Irenaus und antike Profanschriftsteller ausdrücklich von einem sedile am Kreuz, sondern-auch die moderne Medizin hält ein solches für notwendig. Erst jüngst wieder hat der Kölner Arzt H. Mödder auf Grund interessanter Experimente die wichtige Rolle des Sitzpflockes unterstrichen, ohne welchen es medizinisch ganz unmöglich gewesen wäre, mehrere Stunden lang lebend am Kreuze zu hängen. R. Schmittlein kommt in seiner kritischen Studie über die eigentliche Todesursache bei der Kreuzigung im wesentlichen zum gleichen Ergebnis. Auch hier scheint also Hynek einem kleinen circulus vitiosus zum Opfer gefallen zu sein.

Auf die Schwierigkeiten, die etwa noch die Kunstgeschichte gegen das Turiner Grablinrien anmeldet — man denke nur an die merkwürdige Stellung der Hände, die Verwendung von bloß drei Nägeln, die interessante Negativplatte des Prof. Clement usw. —, kann in diesem engen Rahmen nicht näher eingegangen werden, aber aus dem bisher Gesagten ergibt sich wohl deutlich genug, daß leider noch lange nicht „alle Einwände entkräftet“ sind, wie Hynek schreibt, und daß es auch keine bloße „Gemütssache“ ist, derentwillen so viele die Echtheit der Reliquie nicht annehmen, sondern ernste wissenschaftliche Gründe. Man wird daher, wie Kardinal Innitzer einmal richtig bemerkte, gerade dem Exegeten „seinen skeptischabwartenden Standpunkt in dieser Frage nicht verübeln können“.

Das kirchliche Lehramt hat sich mit guten

Gründen in der ganzen Sache bis jetut in kefhef

Weise festgelegt, wenn auch allgemein bekannt ist, daß Pius XI. persönlich von der Echtheit des Turiner Grabtuches fest überzeugt war, aber seine diesbezügliche Ansprache vom 6. September 1936 in Castel Gandolfo ist, wie jeder weiß, keine infallible oder irgendwie bindende Lehrentscheidung.

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