Islam

Ist der Islam „reformierbar“?

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Muslimische und christliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler machten sich auf die Suche nach Ausgangspunkten für Reformen oder eine Reformation in den sunnitischen Traditionen des Islam.

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Muslimische und christliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler machten sich auf die Suche nach Ausgangspunkten für Reformen oder eine Reformation in den sunnitischen Traditionen des Islam.

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Die Debatten über „den Islam“ sind bisher vor allem von Extremen geprägt. Auf der einen Seite wird behauptet, dass eine Reformation im Islam sowieso unmöglich sei. Die Gegenseite meint in apologetischer Absicht, dass der Islam eine Reformation gar nicht benötige – denn er kenne keine Kirchenstrukturen oder die Probleme der muslimisch geprägten Gesellschaften hätten nichts mit dem Islam zu tun. Jenseits dieser Polemiken und Verzerrungen bemühte sich ein Team von Islamwissenschaftler(inne)n 2016 in Düsseldorf um eine differenziertere Betrachtung.

Die Ergebnisse des Symposiums im Zeichen der 500-Jahr-Feiern zur Reformation Luthers sind in vorliegendem Band festgehalten. Auf islamischer Seite kommen so genannte Reformmuslime wie etwa Mouhanad Khorchide oder Assem Hefny zu Wort, die die Notwendigkeit und Möglichkeit einer Reform(ation) der sunnitischen Version islamischer Religiosität betonen, ohne dabei dessen Grundlagen in Frage stellen zu wollen. Die Probleme bei der Umsetzung dieses Programms werden vor allem von deutschsprachigen Islamwissenschaftlern wie Martin Riexinger oder Michael Kreutz und dem Historiker Jörn Rüsen in ausgezeichneten Beiträgen thematisiert. Riexinger verweist auf die sehr ungünstigen Startbedingungen, etwa die säkularen „Entwicklungsdiktaturen“ des 20. Jahrhunderts im Nahen Osten sowie die Konzeption des sunnitischen Islam als Rechtsreligion. Er sieht den Reformmuslimen gleichsam über die Schulter: sie würden versuchen, die Bedeutung des rechtlichen Aspekts zu reduzieren oder herunterzuspielen. Der Bruch mit der Tradition wäre dabei allerdings zu groß, und sie müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, sunnitische Religiosität an die westlich geprägte Moderne inklusive Humanismus und personale Religiosität anzupassen. Riexinger nennt das die „Voluntarismusfalle“: die Auffassung, man könne in die Grundlagentexte einer Schriftreligion beliebige Elemente des herrschenden Zeitgeistes hineininterpretieren.

Reformen müssen „von innen“ kommen

Jörn Rüsen hält es für denkbar, dass sich der sunnitische Islam in Richtung „Kultur-Islam“ – analog zum Kultur-Protestantismus – entwickeln könne. Dieser könne allerdings nur „von innen“, aus dem Leben der Gläubigen, entstehen. Reformen wie jene Atatürks „von oben“ seien langfristig eher wenig erfolgreich. Für die europäische Entwicklung seit dem Humanismus und der Renaissance arbeitet Rüsen drei zentrale Aspekte heraus: die Pluralisierung der Religiosität, die Individualisierung des Glaubens sowie die „Rationalisierung der kulturellen Orientierung“. Moderne bedeutet dann: „Religiöse Subjektivität und säkulare Welt stehen sich nicht mehr als Gegensätze gegenüber, sondern die eine versteht die andere als Ort ihrer Bewährung und Verwirklichung.“

Auch Michael Kreutz hält Veränderungen für möglich, vertraut aber vor allem auf die Kräfte der Globalisierung, die gesellschaftlichen Wandel auch in sunnitisch geprägten Gesellschaften unvermeidlich mache. Im Gegensatz zum Christentum sei die islamische Welt nie mit einem vorislamischen Gesamtentwurf konfrontiert gewesen, wie Rémi Brague argumentiert habe. Fatale Auswirkungen habe schließlich der Triumph der schāfiitischen Rechtsschule über die Mu’tazila gehabt. Damit waren modernitätsfähige Konzepte wie die Willensfreiheit, eine eigenständigen Lehrmeinung oder die Rolle der persönlichen Ratio zurückgedrängt.

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