Ist Geschichte wirklich nur die Lüge, die sich durchgesetzt hat?

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Das hierzulande gängige Bild der Habsburger Monarchie und der darauf folgenden Jahre ist kein sehr freundliches. Angelsächsische Autoren sehen da manches differenzierter. Ein kritischer Einwurf.

Gedenktage und -jahre haben etwas Zwiespältiges: Für viele sind sie willkommener Anlass für arbeits- oder wenigstens schulfreie Tage und für manche Anlass zum Schreiben darüber - und gelegentlich sogar zum Nachdenken. Arbeits- oder schulfrei ist nicht wegen des heurigen Gedenkens an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Aber etwas sollte uns sehr wohl Anlass zum Nachdenken geben: Amerikanische und britische Historiker haben zu 1914 in letzter Zeit vieles geschrieben, das ganz anders klingt als bisher zu hören.

Es gibt ein quasi offizielles Bild der Habsburger Monarchie und der anschließenden Geschichte Österreichs, und das ist nicht sonderlich freundlich: ein Land der Unterdrückung all der Völker, die nicht den beiden regierenden und trotzdem untereinander zutiefst zerstrittenen deutschen und ungarischen Nationen angehören, ein altersstarr gewordener Kaiser mit einem kriegslüsternen Generalstabschef, und nach dem unausweichlichen Untergang dieses Gebildes ein Reststaat mit einer Bevölkerung, deren Besonderheit am ehesten durch ausgeprägte Untertanenmentalität und/oder durch latenten oder offenen Faschismus zu beschreiben sei.

Nicht zum Scheitern verurteilt

Schauen wir näher hin, und beginnen wir am Ende. Dass der Nationalsozialismus in Österreich (zu) viele Anhänger gefunden hat, ist traurige Wahrheit. Aber, nicht ganz zu vergessen, es hat viele tausende Österreicher gegeben, die Widerstand geleistet und dafür meist mit ihrem Leben bezahlt haben. Auch mit der behaupteten Untertanenmentalität dürfte es nicht ganz so weit her sein. 1848, 1918, 1934 hat es Aufruhr und Widerstand gegeben, und an den erfolgreichen und entschlossenen Widerstand der Arbeiter gegen kommunistische Umsturzversuche zwischen Zweitem Weltkrieg und Staatsvertrag wird ja leider auch viel zu wenig erinnert.

Die Monarchie jedenfalls wird von angelsächsischen Historikern zunehmend freundlicher beurteilt. Christopher Clark, dessen Buch über die "Schlafwandler“, europäische Politiker vor und in 1914, nicht eindringlich genug empfohlen werden kann, meint von ihr, "im Großen und Ganzen war es eine relativ gerechte und effiziente Verwaltung, die von einem pragmatischen Respekt für die diversen Traditionen der nationalen Gruppen durchdrungen war“. Clark zitiert mit leiser Süffisanz den später bekanntlich ziemlich radikal gewordenen Edvard Beneˇs, der noch 1908 in einer Studie gemeint hat: "Viele haben von der Auflösung Österreichs gesprochen. Ich glaube überhaupt nicht daran. Die historischen und wirtschaftlichen Bande, welche die österreichischen Nationen verbinden, sind zu stark, als das dies passieren könnte.“

Timothy Snyder, Historiker an der Yale-Universität, meint sogar: "Die Monarchie war sicherlich nicht zum Scheitern verurteilt - das war eher französische, britische und amerikanische Kriegspropaganda. Im Westen wird das noch immer geglaubt, weil, wie ich denke, wir ein schlechtes Gewissen gegenüber der Monarchie haben.“ Noch ganz andere heilige Kühe werden geschlachtet. Die deutsche Flottenrüstung beispielsweise, außer für die Stahlindustrie für niemanden von Nutzen, und angeblich trotzdem wichtiger Grund für Englands Kriegseintritt, wurde, wie Clark an Hand von Dokumenten belegt, von den Briten wegen ihrer eigenen Übermacht nicht einmal ernst genommen.

Mangelndes Selbstbewusstsein

Ginge es allein um die Interpretation der Vergangenheit, dann könnte man solche Debatten getrost einem abstrakten Historikerdisput überlassen. Aber so ganz sollte man sie nicht abtun. Es geht nicht nur um das Geschichtsverständnis, sondern sehr wohl auch um das Selbstverständnis heutiger Österreicher, um Stolz oder Distanzierung von der Geschichte, um Selbstbewusstsein, ja sogar um den Willen zur Gestaltung der Zukunft.

Zu viele Intellektuelle und Schriftsteller - die Historiker sind erfreulicherweise genauer - propagieren, wie Erich Hackl kritisch angemerkt hat, "es gebe in der Vergangenheit nichts, das Wert hätte, an das man anschließen, aus dem man Kraft oder Lehren für die Gegenwart ziehen könne“.

Man muss die Wut und die Trauer der zahllosen Menschen verstehen, die im damaligen Krieg Söhne, Brüder oder Väter verloren haben, ohne darin den geringsten Sinn erkennen zu können. Aber so war es überall. Da war die Monarchie um nichts besser. Aber sie förderte die Bildung in allen ihren Regionen unabhängig von Sprache und Volkszugehörigkeit, und sie hatte ein funktionierendes Rechtssystem. Snyder geht in seinem Urteil über die Monarchie sogar noch weiter: "Sie war letztlich nicht so schlecht, in vielerlei Hinsicht war sie besser und liberaler als die Vereinigten Staaten zu dieser Zeit.“

Liest man die Arbeiten so mancher österreichischer Schriftsteller über damals, dann gewinnt man den Eindruck, an diesem Land und an seiner Vergangenheit dürfe einfach nichts Gutes dran sein. Woher kommt dieser im wahrsten Sinn des Wortes erschreckende Unterschied zwischen der aktuellen Sicht internationaler Historiker auf die damaligen Verhältnisse und der Interpretation der ja doch eigenen Geschichte durch so manche hiesige Intellektuelle und Schriftsteller?

Kampf um die Deutungshoheit

Soll hier Political Correctness bis in die fernere Vergangenheit hinein mit dem Mythos der eigenen Opferrolle verbunden werden, für die schon Karl Kraus das Stichwort vorgegeben hat, als er vom Vogel gesprochen hat, der sein Nest beschmutzt?

Vielleicht geht es sogar um mehr: Die Deutungshoheit über die Gegenwart mit einer ziemlich individuellen Interpretation der Vergangenheit zu stärken, ist ja recht nützlich. Erstens legitimiert man auf diese Weise am besten die eigene Dauerkritik, zweitens kann man die angebliche Kontinuität einer herrschenden, aber eben hoffnungslos verdorbenen und in der Grundstruktur faschistischen Klasse nachweisen, und drittens umso besser die Dringlichkeit und Bedeutung des eigenen Veränderungswillens begründen.

Vielleicht sind das sogar unbegründete Verdächtigungen, und die Sache ist viel einfacher: Das, was österreichische Schriftsteller und Intellektuelle übernommen haben, ist im wesentlichen das Narrativ der Zerstörer der alten Monarchie. Geschichte schreiben die Sieger, sie ist die Lüge, die sich durchgesetzt hat. Das ist bekannt. Und es ist eben bequemer und erspart gründlichere Recherche, die Schilderungen der Sieger über den Ersten Weltkrieg und seine Vorgeschichte einfach unkritisch zu übernehmen.

* Der Autor war Bankmanager, ist heute Gesellschafter einer Vermögensverwaltungsgesellschaft und daneben als Autor tätig

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