"Jede Stimme zählt!" - Wirklich?

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Die Europa-Wahlen am 13. Juni 1999 sind keine bloße Pflichtübung. Diesmal stehen Entscheidungen bevor - über Europas Zukunft.

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Die Europa-Wahlen am 13. Juni 1999 sind keine bloße Pflichtübung. Diesmal stehen Entscheidungen bevor - über Europas Zukunft.

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Roman Herzog, letzter deutscher Bundespräsident, zuvor Universitätsprofessor, oberster Verfassungsrichter und Autor respektabler Bücher zur Geschichte, ist jemand, der sich überlegt, was er sagt. In seiner letzten Rede zur Europapolitik - kurz vor der Wahl seines Nachfolgers - wagte er eine kühn klingende Prognose: "Das Europäische Parlament in Straßburg zwingt die Kommission in Brüssel zur Selbstreinigung und schließlich zum kollektiven Rücktritt. Man wird das später als den Anfang parlamentarischen Regierens in der Europäischen Union qualifizieren." Originalton Herzog: "Dazu braucht man kein Prophet zu sein. So hat das parlamentarische Regierungssystem im 18. Jahrhundert in Großbritannien begonnen, so hat es sich dann im 19. Jahrhundert in anderen Ländern eingeführt ..."

Wenn er recht hat, dann werden die Europa-Wahlen im Juni 1999 als die ersten "wirklichen" europäischen Parlamentswahlen in die Geschichtsbücher eingehen - weil das Parlament inzwischen aus einem bloßen Dekorationsstück zu einem wirklichen Verfassungsorgan der EU geworden ist.

Dafür gibt es ein klares Indiz: Schon oft hat es in der Geschichte der EG und EU Krisen gegeben. Aber das waren stets Konflikte zwischen verschiedenen Mitgliedstaaten (oder Koalitionen zwischen Mitgliedstaaten): etwa zwischen de Gaulles Frankreich und den meisten anderen Staaten über die Erweiterung (de Gaulle wollte die Briten damals nicht im Club haben), oder zwischen den armen und den reichen Ländem um die innergemeinschaftliche Einnahmen- und Ausgabenverteilung.

Die von Herzog angesprochene Krise war die erste, die nicht zwischen Mitgliedstaaten ausbrach, sondern zwischen zwei supranationalen Organen: der Kommission und dem Parlament. Wäre noch ein Beweis nötig, daß das Europäische Parlament ein wichtiger Mitspieler im Verfassungsleben der EU geworden ist - hier liegt er vor Augen.

Welche Rolle das Parlament normalerweise spielt, außerhalb solcher Krisen, das durchschaut der Normalbürger ja meist nicht. Es gibt in den Gründungsverträgen sehr unterschiedliche Bestimmungen darüber, wer für welche Entscheidungen zuständig ist - je nachdem, um welche Vorhaben es sich handelt. Sogar in ein und demselben Aufgabenbereich (etwa: Agrar-, Umwelt-, oder Außenpolitik) gibt es ganz unterschiedliche Beschlußerfordernisse. Am Anfang, vor 40 Jahren, war es meist so, daß die Brüsseler Kommission einen Entscheidungsvorschlag entwarf und dann dem Ministerrat (in dem Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten sitzen) zur Annahme oder Ablehnung vorlegte.

Schrittweise Änderung In der Regel war zur Annahme Einstimmigkeit nötig. Kündigte ein Staat sein Veto an, dann gab es mühsame Kompromißverhandlungen, oft ließen Staaten sich ihre Zustimmung recht teuer "abkaufen"... So wurde nach einer Übergangszeit für viele Angelegenheiten die Regel eingeführt, daß zur Annahme eines Vorschlags die qualifizierte Mehrheit der Ratsstimmen genügt (große, mittlere und kleinere Staaten haben eine verschiedene Anzahl von Stimmen, und die qualifizierte Mehrheit umfaßt etwas mehr als zwei Drittel dieser Stimmen).

Das Parlament hatte dabei nichts mitzuentscheiden; es durfte eine "Stellungnahme" abgeben, doch ob die Ratsmitglieder darauf Rücksicht nehmen wollten, war ihre Sache.

Das hat sich seit über 12 Jahren schrittweise geändert. Noch immer gibt es Dinge, zu denen das Parlament nur unverbindliche Meinungen äußert, woraufhin die Entscheidung, letztlich allein im Rat fällt. Dabei geht es vor allem um jene Themen, die in den Augen der Mitgliedstaaten besonders heikel sind, und wo eben deshalb die Spielregeln immer noch Einstimmigkeit vorsehen. In vielen anderen Angelegenheiten hat das Parlament heute nahezu eben so viel Mitgestaltungsmacht wie der Rat.

Das gilt vor allem für solche Beschlüsse, zu deren Zustandekommen im Rat nicht Einstimmigkeit erzielt werden muß, sondern nur eine qualifizierte Mehrheit (im erläuterten Sinn) zustandekommen muß. Dann also können Regierungen und Kommission nicht mehr untereinander "ausschnapsen", wie eine Regelung, aussehen soll - die Volksvertretung wirkt mit. Erfahrungsgemäß bringt sie bestimmte inhaltliche Akzente ein; so hat das Parlament zum Beispiel für Umweltschutzanliegen meist mehr übrig als die Kommission oder der Rat. Will in solchen Fällen, wo das "Mitentscheidungsverfahren" stattfinden muß, die Parlamentsmehrheit etwas anderes als die Ratsmehrheit, dann tritt ein "Vermittlungsausschuß" zusammen, in den sowohl der Rat wie das Parlament Vertreter entsenden, die einen Kompromiß suchen müssen. Scheitern sie, dann bleibt das ganze Entscheidungsprojekt auf der Strecke. Das erzieht alle Beteiligten dazu, sich um vernünftige und akzeptable Lösungen zu bemühen.

Zur Überraschung von Beamten und Experten hat der Einführung des Verfahrens die durchschnittliche "Bearbeitungsdauer" eines Entscheidungsvorschlags nicht etwa zugenommen. Die Einbeziehung des Parlaments hat die Maschinerie nicht schwerfälliger gemacht. So ist das schon seit einigen Jahren. Aber gerade auf das am 13. Juni 1999 zu wählende Parlament kommen einige schicksalhafte Probleme zu: Rotes Europa Zum einen: In den nächsten fünf Jahren werden wohl die ersten Entscheidungen zur Aufnahme neuer Mitglieder fallen. Aber für jede Erweiterung, ist die Zustimmung des Parlaments nötig - billigt es einen der diplomatisch ausgehandelten Beitrittsverträge nicht, dann läuft das Ratifizierungsverfahren gar nicht an, das heißt, der Beitrittsvertrag kommt gar nicht auf die politische Tagesordnung der Mitgliedstaaten.

Zum anderen: Rund 40 Jahre lang ging es in Brüssel in erster Linie um den Abbau von Wirtschaftshemmnissen: von Zöllen, von anderen Handelshindernissen, von Kapitalverkehrskontrollen, von Einschränkungen der Freizügigkeit oder der Berufsausübung über die Grenzen hinweg, mochte es sich um Arbeitnehmer oder Selbständige oder um Versicherungsgesellschaften oder Reisebüros handeln. Im Wirtschaftsjargon heißt das "Deregulierung". Vieles, was die Kommission vorschrieb, bestand aus Vorschriften und Entscheidungen zur Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen, die im Zug dieser Deregulierung (zum Beispiel "Strafgebühren", wenn ein Staat seine eigenen Unternehmen subventionierte) verhindert werden sollten.

"Wettbewerb über alles" - das war nicht die einzige, aber doch eine zentrale Parole. Im Grunde war dies ein liberales Integrationsprogramm. Aber inzwischen ist "Neoliberalismus" längst nicht mehr überall populär, seitdem im weltweiten Rahmen die Deregulierung den Konkurrenzdruck stark erhöht hat. (Das Stichwort lautet: "Globalisierung".) Und in der Mehrzahl der Mitgliedsländer regieren inzwischen Sozialdemokraten. Sie wollen das bisherige Grundrezept der Integration modifizieren: weniger" Deregulierung", mehr "soziale Gegensteuerung".

Solidarität & Soziales Einen Vorgeschmack der Kontroverse haben wache Zeitgenossen schon mitbekommen: Wird es so etwas wie eine "Europäische Wirtschaftsregierung" geben, wird also die Währungsunion durch eine Wirtschafts-, Finanz- und Sozialunion ergänzt werden? Soll also das Deregulierungsprogramm durch ein Umverteilungsprogramm ergänzt werden? Wird neben die Parole "Leistung und Hartwährung" die Parole "Solidarität und Soziale Sicherheit" treten? Vor allem aber: Wird im Zeichen solcher Alternativen auch die Frage aktuell werden, ob solche Entscheidungen in Hinkunft hinter verschlossenen Türen von den Staats- und Regierungschefs getroffen werden - oder ob dazu nicht ein öffentlicher Meinungsbildungsprozeß stattfinden muß, an dem auch die Volksvertretung mitwirkt, und über dessen Ausgang letztlich die Wähler mitzuentscheiden haben?

Das heißt: Es wird in den nächsten Jahren wohl eine massive Debatte über die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Grundausrichtung der Integration geben müssen. Wo sollte sie stattfinden, wenn nicht im Europäischen Parlament?

Dazu wird es am 13. Juni noch nicht die letzte Weichenstellung geben - aber eine Vorentscheidung.

Diese Wahlen sind keine bloße Pflichtübung, die den Unionsbürgern das Gefühl geben soll, sie dürften sich doch in ihre Angelegenheiten einmischen. Diesmal stehen Entscheidungen bevor - über Europas Zukunft.

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft in Wien und Direktoriumsvorsitzender des Instituts für Europäische Politik in Bonn.

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