"Jeder bekommt einen Schutzengel zur Seite"

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Drogenentzug ohne Methadon, ja sogar ohne Arzt, Sozialhelfer oder Psychotherapeuten? Stattdessen Rosenkranz und schwere Arbeit? Es kling geradezu unglaublich, funktioniert aber denoch ganz erstaunlich gut - weltweit in 27 Häusern der "Communita Cenacolo".

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Drogenentzug ohne Methadon, ja sogar ohne Arzt, Sozialhelfer oder Psychotherapeuten? Stattdessen Rosenkranz und schwere Arbeit? Es kling geradezu unglaublich, funktioniert aber denoch ganz erstaunlich gut - weltweit in 27 Häusern der "Communita Cenacolo".

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dieFurche: Wir sitzen hier in einem grünen Hof, unter einem schattigen Nußbaum. Überall junge Burschen, die arbeiten: Steine klopfen, Mauer hochziehen, Holz schleifen. Dazwischen beten sie den Rosenkranz. So stellt sich wohl niemand eine Entzugsanstalt für drogenabhängige Jugendliche vor ...

Luciano: Die "Communita Cenacolo" ist auch etwas Besonderes. Sie wurde von Schwester Elvira, einer italienischen Nonne, gegründet. Die Pfeiler unserer Gemeinschaft sind Gebet, Dialog, Freundschaft und Arbeit. Wir haben keine Ärzte, keine Sozialarbeiter, keine Psychologen.

dieFurche: Und wenn jemand neu ins Haus kommt und voll auf Entzug ist ...

Luciano: ... dann stellen wir ihm einen "Schutzengel" zur Seite. Einen von uns, der vor ein paar Jahren dasselbe durchgemacht hat, durch die gleiche Hölle ging und genau weiß, was los ist. Der "Schutzengel" ist 24 Stunden bei ihm, schläft neben ihm, ißt neben ihm, arbeitet mit ihm; ja, begleitet ihn sogar auf die Toilette. Er hilft ihm auf, wenn er zusammenbricht.

dieFurche: Drogenentzug ohne "professionelle" Hilfe, ohne Methadon ... Statt dessen Gebet und schwere körperliche Arbeit. Es klingt unglaublich.

Luciano: Die Ergebnisse sind aber überwältigend: Wir haben eine Erfolgsquote von mehr als 80 Prozent. Aber es geht um viel Wesentlicheres. Natürlich mußt du am Anfang von der Droge loskommen, zuerst körperlich, dann im Kopf. Aber in der Gemeinschaft lernen wir viel, viel mehr. Als Abhängiger bist Du egoistisch, ja du mußt total egozentrisch sein, um überleben zu können: Du stiehlst, bestiehlst sogar deine Familie, lügst, kannst deinen "Freunden" nicht trauen. Das "Cenacolo" ist auch eine Charakterschule.

dieFurche: Was passierte in deinem Leben, bevor du in die Gemeinschaft kamst?

Luciano: Ich bin in einem Dorf in Apulien geboren, aber in Deutschland aufgewachsen. Mein Vater ging als Gastarbeiter dorthin und hat meine Mutter und uns Kinder nachgeholt. Mit 15 habe ich alles in Frage gestellt: Was hat das Leben für einen Sinn? Wozu arbeiten? Ich habe mit Alkohol begonnen, dann Hasch geraucht, wollte meine Zweifel, Ängste und meine Schüchternheit überwinden. Am Anfang macht die Droge alles schön wie eine Blume, aber sie hat meine Probleme nicht gelöst. Ich begann zu dealen, brauchte immer mehr Geld. Als mein Vater mich zur Rede gestellt hat, bin ich ausgezogen. Aus Stolz. Mit 18 war ich 1,5 Jahre im Gefängnis. Dort habe ich einen Entzug gemacht. Mein Körper war clean, aber mein Kopf nicht. Als ich herauskam, hat mir meine Familie geholfen: Ich konnte zu Hause wohnen, ein Bruder verhalf mir zu einem Job.

dieFurche: Eine neue Chance?

Luciano: Ja, aber ich traf auch die alten Freunde wieder und bin wieder in die Droge hineingerutscht. Ich begann, Heroin zu spritzen. Früher dachte ich immer, die, die Heroin nehmen, das sind die Junkies. Hasch ist noch in Ordnung. Ich habe auch wieder gedealt und bin erwischt worden. Diesmal wurde ich zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Dann haben sie mich nach Italien abgeschoben. Ich kam in Mailand an. Aber es war alles fremd, ich kannte mich nicht aus, kannte die Regeln nicht. Ich habe gleich mit dem Geld, das sie mir zur Entlassung gegeben haben, wieder Drogen gekauft.

dieFurche: Hat Dich Deine Familie damals - noch immer - unterstützt?

Luciano: Ja, ich bekam wieder eine neue Chance, eine neue Arbeit, neue Freunde. Aber ich habe alles gekündigt und landete auf der Straße. Ich habe gedealt, gestohlen, gebettelt; es wurde alles immer schlimmer. Fast zwei Jahre, zwei ganze Winter, habe ich im Mailänder Bahnhof gewohnt. Immer wieder kam eine Gruppe Jugendlicher, die von der Gemeinschaft "Cenacolo" erzählten. Einmal saß ich im Mailänder Dom, und mir wurde klar, daß es nur noch zwei Möglichkeiten gibt: Entweder ich gehe zugrunde oder jemand hilft mir. Ich habe gedacht: "Gott, wenn es Dich wirklich gibt, dann hilf mir". Ich konnte nicht mehr, hatte keine Kraft, keine Lust mehr. Ich brauchte drei bis vier Gramm Heroin am Tag und konnte das Geld dafür kaum noch beschaffen. Damals habe ich mir mit den Jugendlichen, die regelmäßig mit warmem Essen zum Bahnhof kamen, ein Treffen ausgemacht.

dieFurche: War das der erste Kontakt mit der Gemeinschaft "Cenacolo"?

Luciano: Nicht direkt. Aber die haben mich dann nach Turin zu einem Vorgespräch gebracht. Und da haben dann ein paar gesprochen, die hatten so leuchtende Augen, und ich dachte, das wären Sozialarbeiter. Dabei waren das ehemalige Drogenabhängige, und die haben mich dann gefragt, ob ich mein Leben ändern möchte. Ich habe "ja" gesagt, was hätte ich sonst tun sollen?

dieFurche: Das klingt nicht sehr überzeugt.

Luciano: Keiner von uns geht freiwillig in die Gemeinschaft. Es gibt keine Drogen, keine Zigaretten, keine Tabletten, keinen Alkohol, keine Mädchen, nicht einmal Fernsehen. Ich dachte: Das sind lauter Verrückte. Wenn ich früher "arbeiten" und "beten" gehört habe, standen mir die Haare zu Berge.Ich kam dann in das Mutterhaus in Saluzzo, war auf Entzug, hatte lange Haare, zerrissene Kleidung und einen Strubbelbart. Im Gang hat mich Schwester Elvira in die Arme genommen. Dann hat sie auch ein Foto von mir gemacht. Heute würde ich mich selbst nicht mehr erkennen. Ich bekam einen "Schutzengel" zugeteilt. Das erste Jahr war die Hölle. Aber jetzt bin ich schon im siebenten Haus ...

dieFurche: ... und auch schon eine Zeit lang in Kleinfrauenheid, im ersten Haus der Gemeinschaft in Österreich. Wie kam man auf Kleinfrauenheid?

Luciano: Der Herr Pfarrer hier (Pfarrer Johannes Lehrner, Anm.) hat uns einen Teil des Pfarrhofes, einen alten Stall, zur Verfügung gestellt, den wir ausgebaut haben. Kleinfrauenheid ist ein Dorf mit 30 Einwohnern. Natürlich gab es am Anfang Bedenken und Vorurteile. Man dachte, daß da lauter Junkies kommen, die die Jugendlichen mit Drogen bekanntmachen und daß man nicht mehr auf den Friedhof gehen kann, ohne überfallen zu werden. Das war am Anfang. Jetzt haben wir viele Freunde und werden von den Nachbargemeinden tatkräftig unterstützt.

dieFurche: Alles, was ihr benötigt, produziert ihr selbst. Darüber hinaus lebt ihr von der "Vorsehung".

Luciano: Ja, wir haben einen großen Gemüsegarten, ein Feld und ein paar Kühe, Schweine und Hühner. Wir backen unser Brot selbst. Sonst leben wir von dem, was die Leute uns schenken. Haben wir einmal kein Salz, gehen wir nicht gleich zum Kaufmann, sondern warten, bis uns jemand Salz schenkt. So lernen wir, uns auch über kleine Dinge zu freuen.

dieFurche: Und der Tagesablauf?

Luciano: Wir stehen um sechs Uhr auf und treffen uns dann in der Kapelle. Dort beten wir den freudenreichen Rosenkranz und lesen aus der Heiligen Schrift. Dann hat jeder die Möglichkeit zu sagen, was ihn besonders berührt hat oder was ihm am Herzen liegt. Nach dem Frühstück geht jeder an seine Arbeit. Wir bauen den Stall weiter aus, haben eine eigene Tischlerei, es gibt Arbeit im Garten, auf dem Feld und in der Küche. Jeder ist irgendwo eingeteilt und arbeitet in einer Gruppe mit. Mittagessen gibt es um 12 Uhr, dann ist Freizeit bis halb zwei. Dann geht jeder an seine Arbeit. Jede Gruppe betet gemeinsam den schmerzreichen Rosenkranz. Am Abend treffen wir uns in der Kapelle und beten den glorreichen Rosenkranz. Das Evangelium des Tages wird verkündet, und wieder gibt es die Möglichkeit zur Mitteilung. Im Moment sind wir 16 Burschen hier. Zweimal in der Woche feiert der Herr Pfarrer mit uns die Heilige Messe.

dieFurche: Wie eng ist der Kontakt mit der Pfarre sonst?

Luciano: Jeden Sonntag feiern wir in der Kirche von Kleinfrauenheid den Gottesdienst. Samstag abends gestalten wir die Anbetung. Oft kommen Jugend- und Firmgruppen zu uns, und wir erzählen von uns und von der Gemeinschaft.

dieFurche: Spielt für "Cenacolo" auch die Familie eine wichtige Rolle?

Luciano: Wenn möglich werden auch die Angehörigen eines "Neuen" schon ab den Vorgesprächen miteinbezogen. Denn oft ist nicht nur der Drogenabhängige krank. Die Probleme gehen meist viel tiefer. Wir hier müssen ja eine ganz neue Beziehung zu unseren Familien aufbauen.

dieFurche: Bleibt man ein Leben lang in der Gemeinschaft?

Luciano: Nein. Jeder von uns plant, die Gemeinschaft irgendwann zu verlassen. Ich möchte auch eine eigene Familie gründen, selber Kinder haben. Aber ich habe so viel geschenkt bekommen. Jetzt möchte ich noch eine Zeit lang bleiben, um etwas für andere zu tun.

Das Gespräch führte Maria Harmer.

COMMUNITA CENACOLO Zwei Jahre in Österreich Die "Communita Cenacolo" wurde vor 16 Jahren von der italienischen Ordensschwester Elvira Petrozzi gegründet. Das erste Haus für drogenabhängige Jugendliche steht in Saluzzo, in der Nähe von Turin. Derzeit gibt es 27 Häuser, die meisten davon in Italien, andere in Frankreich, Bosnien-Herzegovina, Kroatien und den USA. Etwa 600 junge Burschen leben derzeit in dieser Gemeinschaft. Fünf Häuser in Italien werden von weiblichen Drogenabhängigen bewohnt. Weitere Häuser der Gemeinschaft in Mexiko, Brasilien und der Dominikanischen Republik sind zudem für Straßenkinder eingerichtet worden. Die Gemeinschaft "Cenacolo" gibt es seit knapp zwei Jahren auch in Österreich, und zwar im burgenländischen Kleinfrauenheid, nicht weit von Eisenstadt entfernt. Adresse: 7023 Kleinfrauenheid 8, Telefon: 02626/5963 Spendenkonto: Raiffeisen Bank Klosterneuburg, "Freunde der Gemeinschaft Cenacolo", BLZ 32367, Konto Nr. 1222

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