"Jeder hat das Recht auf einen Guru"

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Fritz B. Simon, systemischer Familientherapeut, Professor an der privaten Hochschule Witten/Herdecke und profunder Kenner von Bert Hellingers Methoden, im furche-Gespräch.

Die Furche: Sie meinen, man müsse die Familienaufstellung vor ihrem "Erfinder" schützen. Was finden Sie bedenklich an Bert Hellinger?

Fritz B. Simon: Seine Normativität. Dass er seinen Klienten oder Kunden - ich scheue mich das Wort "Patient" zu verwenden, weil ich das nicht für eine Therapieform halte - vorschreiben will, wie sie es richtig machen können. Aber selbst ein sehr erfahrender Psychotherapeut weiß nicht, was für den anderen richtig ist. Niemand kann wissen, wo bestimmte Stolperstufen in der Entwicklung sind. Einfach zu sagen: "Wenn du diesen Weg gehst, dann stürzt du in den Abgrund - oder alles wird gut", das ist Quatsch.

Die Furche: Noch dazu gibt es vor einer Familienaufstellung keine klärende Anamnese ...

Simon: Das kommt noch dazu. Aber wenn man so normativ vorgeht wie Hellinger, dann braucht man keine Informationen mehr. Das ist ja der Witz: Wenn ich eh weiß, was richtig ist, dann brauche ich nur nachzusehen: Machst du es so, wie ich es dir sage, oder nicht?

Die Furche: Die Anhänger Hellingers glauben, dass er über hellseherische Fähigkeiten verfügt ...

Simon: Wenn er hellseherische Fähigkeiten hat, sollte man ihn sofort fürs Lotto engagieren. Das Problem ist, dass er aus einer eher religiösen Tradition heraus mit Offenbarungswahrheiten arbeitet. Er sieht sich Familienaufstellungen an und meint dann: "Es zeigt sich, wie es ist." Mir zeigt sich da nichts. Dass hier eine einzige Wahrheit ans Licht treten würde, sehe ich nicht. Kein Einzelner verfügt über die Wahrheit. Wenn einer sagt, er verfüge über die allein gültige Wahrheit, dann macht er eigentlich ein totalitäres Beziehungsangebot nach dem Motto: "Ich sag dir die Wahrheit, und du machst gefälligst, was ich dir sage."

Die Furche: Tatsache ist, dass viele Menschen, die im Rahmen einer Familienaufstellung in eine fremde Rolle geschlüpft sind, von bestimmten körperlichen Wahrnehmungen berichten ...

Simon: Das ist richtig: Ein Doktorand von mir hat überprüft, ob die Position der Personen in der Familienaufstellung bestimmt, was man erlebt. Und das hat sich hochsignifikant bestätigt. Wenn also irgend jemand in eine bestimmte Position der Aufstellung gebracht wird, dann wird er mit großer Sicherheit bestimmte Arten von Erleben haben: etwa sich klein fühlen - oder groß. Das sind also keine Zufallsergebnisse. Ob das aber etwas mit der realen Familie zu tun hat, ist eine andere Geschichte. Ich persönlich denke: Wenn einer seine Familie aufstellt, dann ist das so, wie wenn er über seine Familie redet. Beim Aufstellen inszeniert er also die Szene, wie er sie sieht. Es ist also seine ganz persönliche, subjektive Sichtweise. Hellinger hingegen behauptet, da zeige sich die Wahrheit: Du hast die Familie so aufgestellt, und so ist sie. Doch das lässt sich nicht begründen und entspricht auch nicht der Erfahrung.

Die Furche: Bewirkt Familienaufstellung Ihrer Meinung etwas?

Simon: Ich glaube schon, dass es für den Betreffenden etwas bewirkt, denn wie in jeder Individualtherapie verändert sich ja seine Sichtweise auf sein Leben und seine Familie. Eine Familienaufstellung ist darüber hinaus nicht nur eine private Geschichte zwischen ihm und seinem Therapeuten, sondern - wie bei einer Eheschließung vor Zeugen - ein hochritualisierter Akt. Das kann Stütze geben und Selbstdefinitionen verändern.

Die Furche: Es kann aber auch sein, dass Menschen mit einem problematischen "Ergebnis" allein nach Hause geschickt werden und bereits suizidgefährdete Personen ihrem Leben ein Ende machen - wie es etwa 1997 in Leipzig geschehen ist.

Simon: Es ist nur dieser eine Fall bekannt. Aber ich glaube, es gibt keine Therapiemethode, wo nicht auch Suizide vorkommen. Ich halte das nicht wirklich für ein Argument gegen die Aufstellung.

Die Furche: Tatsache ist aber, dass die Klienten nicht nachbetreut werden.

Simon: Ja, natürlich. Andererseits gibt es das "Recht auf einen Guru". Die Leute wissen, worauf sie sich einlassen. Ich habe mich etwa noch nie aufstellen lassen, und ich kenne auch viele Menschen, die das nie tun würden. Die gehen zu einem Therapeuten, der zertifiziert ist. Wer zu Bert Hellinger geht, wo 500 Leute im Raum sitzen, kann nicht die Erwartung haben, dass hier eine seriöse Therapie stattfindet. Ein wenig Verantwortung sollte man auch noch bei den Leuten lassen. Es wird keiner dort zwangsvorgeführt.

Die Furche: Allerdings vertritt Hellinger einige äußerst problematische Thesen: Zum Beispiel meint er, dass Kinder ihre Eltern über bestimmte Inhalte nicht fragen dürften, weil dies eine "Anmaßung" sei: Dazu gehört nicht nur der intime Bereich, sondern auch die Frage, ob etwa der Vater eine Nazi-Vergangenheit hatte. Hellinger hat auch ein sehr patriarchales Bild von Mann-Frau-Beziehungen, wo die Frau abgewertet wird ...

Simon: Diese Punkte sind in der Tat sehr problematisch. Hier hat er inhaltliche Vorstellungen, die sicher vor 200 Jahren weit verbreitet waren, und deren Funktionalität man heute in Frage stellen muss. Damit habe auch ich Schwierigkeiten: dass er etwas als Norm setzt, etwa in der Mann-Frau oder Eltern-Kind-Beziehung. Ich denke einerseits auch, dass es die Kinder nichts angeht, wie das Sexualleben ihrer Eltern abläuft. Mit der Nazi-Vergangenheit ist es eine andere Geschichte: Die ist nicht mehr die Privatsache irgendwelcher Eltern. Wo immer jemand wie Hellinger apodiktisch Normen aufstellt, dort wird es problematisch, weil er dann von den Personen abstrahiert. Er sieht nicht mehr die konkrete Familie und ihre Geschichte, sondern er sieht nur noch jemanden, der in ein Schema hineinpasst oder nicht mehr hineinpasst.

Die Furche: Apropos Nazivergangenheit: Hellinger selbst hat eine fast sympathisierende Haltung zu Adolf Hitler. Das zeigt sich darin, dass er Hitlers "Kleine Reichskanzlei" in Berchtesgaden gekauft hat und in seinem neuen Buch "Gottesgedanken" Hitler als verkannten Menschen darstellt ...

Simon: Was er hier macht, ist extrem instinktlos. Das ist autodestruktiv. Anders kann ich mir das nicht erklären.

Die Furche:Dennoch plädieren Sie dafür, die Familienaufstellung - jenseits von Hellinger - nicht zu verteufeln. Warum?

Simon: Weil ich denke, dass sie eine Methode ist, wo man innerhalb kurzer Zeit relativ viele gute Ideen darüber bekommen kann, was in einem sozialen System los ist - sei es eine Familie oder ein Arbeitsteam. Entscheidend ist aber, dass man - wenn man bei Sinnen ist - nur zu jemandem gehen soll, der wirklich therapeutisch erfahren und zertifiziert ist und nicht nur die Aufstellung, sondern zwei, drei andere Methoden kennt. Dann weiß er auch, was er mit seinen Aufstellungen macht, weil er nicht nur auf die Magie des Augenblicks setzt, sondern auch eine Vorstellung davon hat, wie Psyche funktioniert.

Die Furche: Sie selbst haben Ihre Familie noch nie aufstellen lassen. Warum?

Simon: Ich habe schon einmal mit dem Gedanken gespielt, es zu tun, aber dann schien mir die Auswahl der Aufsteller nicht groß genug - ich kenne die mir vertrauenswürdigen schließlich alle persönlich. Außerdem bin ich bislang mit meiner Familie auch so einigermaßen klargekommen.

Das Gespräch führte Doris Helmberger.

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